Shanghai Love Story
zeichnen, und zwar bekleidet. Wenn die Frau ihre Kleider nicht ablegen wollte, gab es deshalb anscheinend keine Diskussion. Und so machte sich auch Anna an die Arbeit. Sie hatte seit Monaten nichts mehr gezeichnet, seit Ende der Schule, und sie brauchte eine Weile, um warm zu werden. Aber es dauerte nicht lange und ihre Hand wurde locker und geschmeidig, und dann schien sie sich wie von selbst zu bewegen.
Als Anna das dritte Blatt Papier zur Hand nahm, war die junge Frau in der drückenden Hitze eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite gerollt, der Ausschnitt ihres Gewandes war verrutscht und enthüllte eine kleine cremeweiÃe Brust. Das lange Haar fächerte über ihren bleichen Oberkörper, schwarz auf weiÃ. Anna schattierte gerade die Linien der Rippen, als sie fühlte, wie der Lehrer hinter sie trat und anerkennend und überrascht mit der Zunge schnalzte. Sie war sehr zufrieden mit dem Fortgang ihrer Arbeit.
»Mmm ⦠Bu zuo. Bu zuo «, murmelte er, ehe er weiterging.
»Er sagen: âºNicht schlecht.â¹Â«, flüsterte Chenxi hinter seiner Staffelei hervor.
»Nicht schlecht?« Anna hob die Augenbrauen, enttäuscht über dieses magere Lob.
Chenxi kicherte. »In China Lehrer niemals sagen âºSehr gutâ¹. Er nur sagen: âºNicht schlechtâ¹. Wenn Lehrer sagen âºNicht schlechtâ¹, dann du sehr glücklich. Nur neunzig Jahre alte Meister können sein hen hao  â sehr gut! Du bist wie alle Ausländer. Zu stolz!«
Anna runzelte die Stirn. Diese Art von Kritik war sie nicht gewohnt. Unfähig, ihre Neugier im Zaum zu halten, beugte sie sich zur Seite, um Chenxis Arbeit zu betrachten. Sie war sprachlos angesichts der mangelnden Originalität des Bildes.
»Das ist scheiÃe!«, winkte Chenxi verächtlich ab.
Sie musste zugeben, dass er recht hatte. Besonders nach dem, was sie erst vor einer halben Stunde von ihm gesehen hatte. Der Zeichnung fehlte jegliches Gefühl. Die Proportionen waren vollkommen, alles war am richtigen Platz, aber die Frau in dem Bild hatte nichts Besonderes, nichts Einzigartiges an sich. Es war irgendeine beliebige Frau. Sie besaà keine Wärme, nichts, wodurch sie sich hervorgehoben hätte; ihr Gesicht war eine leere Maske, ihr Körper der einer Statue. Anna musste an die Propagandaposter von glücklichen Arbeitern aus der UdSSR der fünfziger Jahre denken. Starke, gesund wirkende Menschen, aber alle völlig identisch. Männer, Frauen und Kinder, abgebildet nach dem Einheitsprinzip.
Anna schlenderte zu Lao Li und sah auf seinem Tisch das gleiche Bild, nur aus einem anderen Winkel. Ebenso bei Mondgesicht. Es waren alles perfekt produzierte, uniformierte Zeichnungen. Und der Lehrer, der hinter den Studenten auf und ab ging, nickte zufrieden oder korrigierte hier und da ein paar Linien.
Die studierte Einförmigkeit war beängstigend. Das war kein Zufall. War dies ein aufgezwungener Stil, ein Kompromiss? Wurde den Studenten eingebläut, auf diese Art Kunst zu produzieren, oder hatten sie bloà erkannt, was von ihnen erwartet wurde?
Sie betrachtete Chenxi, der mit ausdruckslosem Gesicht an seiner Skizze arbeitete, und sie fragte sich, ob sie wirklich und wahrhaftig einen Blick in sein wahres Inneres getan hatte.
Anna saà schweigend auf dem Gepäckträger seines Fahrrads und überlegte, wie sie Chenxi all die Fragen stellen sollte, die sich in ihren Gedanken drängten. Während er sich durch den Verkehr schlängelte, stellte sie sich vor, wie er auf der elfenbeinfarbenen Couch in dem stillen Apartment ihres Vaters saÃ. Sie würde ihm Tee kochen und dann würden sie sich zusammensetzen und reden. Sie würden sich kennenlernen. Vielleicht würden sie sich küssen.
Als sie die StraÃe erreichten, in der Annas Vater wohnte, rief sie Chenxi von hinten zu: »Kommst du noch mit hoch und trinkst etwas?«
Chenxi fuhr langsamer, als sie sich dem Tor näherten, und steuerte auf die gegenüberliegende StraÃenseite zu.
Anna rutschte vom Gepäckträger und wartete auf seine Antwort.
»Nein, danke«, sagte er und warf einen Blick hinüber zu dem Torwächter.
Anna war wie vor den Kopf gestoÃen. War er mit Absicht so widerspenstig? »Ach komm! Du bist den ganzen Weg gefahren. Komm doch mit hoch und setz dich ein paar Minuten. Es wäre doch verrückt, jetzt gleich in dieser Hitze wieder zurückzufahren. Trink doch wenigstens einen
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