Shanghai Love Story
Taxi zum Apartment zurückfahren und sich in ihrem klimatisierten Zimmer aufs Bett legen. Sie könnte sogar früher als geplant nach Hause fliegen. Ein Monat war eine lange Zeit in einem fremden Land. Es war ja nicht so, dass sie an dieser Akademie wirklich etwas lernen würde. Wie denn auch, wo sie doch nicht einmal Chinesisch sprach! Sie war nicht einmal in der Lage, Freunde zu finden. Die einzige Person, die Englisch sprach, war Chenxi, und der war eindeutig nicht an ihr interessiert.
Sie würde es folgendermaÃen tun: Sie würde eine Weile bleiben und dann nach Australien zurückfliegen und Zeit mit ihren Freunden verbringen, bis dort die Universität anfing. Sie hatte bereits ihr erstes Uni-Jahr mit ihrer Unentschlossenheit vergeudet, hatte herumgespielt und sich mit Jobs über Wasser gehalten, bis ihr Vater vorschlug, sie solle ihn eine Weile besuchen. Um einmal »ernsthaft« über ihre Zukunft zu reden.
Anna hatte plötzlich das beängstigende Gefühl, ihre Zeit zu verschwenden. Sie wusste nicht, was sinnloser war: ihre lächerliche Schwärmerei für Chenxi oder ihr nutzloses Verlangen, Malerei zu erlernen. Wie auch immer, ihr Vater musste sie nicht überreden. Sie würde im nächsten Semester bestimmt anfangen, ernsthaft zu studieren.
Kapitel 7
Chenxi stand dicht an der Wand. Er hatte die Arbeit an einer Seite des Bildes beendet, das mit ReiÃzwecken an der Wand befestigt war, und stand nun auf einem Stuhl und streckte sich zur oberen Ecke. Pinselstrich für Pinselstrich trug er die Tuschelagen auf, erschuf eine allmähliche Schwärze. Graue Wellen kräuselten sich, eine Reihe von Einkerbungen, die in dem Kontrast zwischen Hell und Dunkel scharf wirkten.
In der oberen rechten Ecke bluteten Tuschetropfen in das poröse Reispapier, blassgraue Spritzer wie die Flecken auf einem Vogelei. Unter diesem Bereich zogen sich schwarze Schlitze von trockenen Pinselborsten in nasser Farbe, deuteten nach oben und in die Tiefe, wie ein zerklüfteter Berggipfel oder vielleicht ein offenliegender Rippenbogen. Die Ecke, an der Chenxi jetzt arbeitete, war eine Mischung aus weichen grauen Pinselstrichen und dunklen, nassen Pfützen aus schwarzer Tusche, feuchtes Haar oder modriges Laub vielleicht.
Er hielt nie inne, um sein Werk zu betrachten. Es erwuchs aus eigenem Antrieb unter seinen Händen, atmete, nahm Leben an durch die sanfte Ermutigung seines Schöpfers. Jeder Strich mit dem Pinsel war wie das behutsame Freilegen einer archäologischen Kostbarkeit. An dieser abstrakten Verschmelzung aus Formen und Schattierungen war nichts Vertrautes, aber es war so harmonisch vollkommen wie das Werk eines groÃen Meisters, ob aus dem Osten oder dem Westen.
Chenxi trat zurück. Lao Li öffnete schläfrig die Augen und warf ihm von seinem Stuhl aus, den er mit der Rückenlehne gegen den Fenstersims gelehnt hatte, einen Blick zu. »Fertig?«
»Da ist jemand an der Tür«, sagte Chenxi, ohne die Augen von seinem Gemälde zu nehmen.
Lao Li schaute zur Tür, und tatsächlich: Die Ausländerin spähte durch das in der Tür eingelassene Fenster. »Woher wusstest du das?«, wollte Lao Li wissen und stand auf, um sie hereinzulassen.
»Sie steht schon eine ganze Weile da. Ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis sie den Weg zurück findet.«
Lao Li schloss die Tür auf und öffnete sie für Anna. Chenxi zog die ReiÃzwecken eine nach der anderen aus dem riesigen Stück Papier an der Wand.
»Warte«, sagte Anna. »Darf ichâs mir ansehen?«
Chenxi zuckte mit den Schultern und steckte die ReiÃzwecken wieder fest.
Durch die staubige Türglasscheibe hatte Anna das Bild nur undeutlich sehen können, deshalb betrachtete sie es jetzt genau.
Chenxi lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was du denken?«
Anna verengte die Augen und zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich denke, du solltest diesen runden Teil hier etwas abdunkeln, wenn du den Eindruck erwecken willst, dass der Vordergrund vom Hintergrund getrennt ist â¦Â«
Chenxi drehte sich überrascht um.
»Oder aber du müsstest diesen Mittelstreifen etwas heller machen. Nein, ich glaube, die Schattierung wäre effektiver, meinst du nicht auch?« Sie schaute zu Chenxi, dessen Mund weit offen stand. Lao Li betrachtete die beiden und grinste.
»Ãhm ⦠ja. Das ich
Weitere Kostenlose Bücher