Shannara I
mißtrauisch und ließ Shea keine Minute aus den Augen.
Es war völlig dunkel, als Shea von einer Hand auf seinem Arm geweckt wurde. Er hatte nicht tief geschlafen, und die kalte Berührung weckte ihn sofort; sein Herz hämmerte. Er schlug um sich und wollte den unsichtbaren Angreifer packen. Ein Zischen erreichte seine Ohren, und plötzlich erkannte er Flicks breites Gesicht im schwachen Licht der von Wolken teilweise verhangenen Sterne und des schmalen Sichelmonds. Die Angst verschwand.
»Flick! Du hast mich…«
Seine Erleichterung schwand ebenso schnell, als Flicks kräftige Hand sich auf seinen offenen Mund preßte und das warnende Zischen sich wiederholte. Shea sah im Dunkeln die angstvollen Züge seines Bruders. Er wollte hoch, aber die kräftigen Arme packten ihn fester und zogen sein Gesicht näher an den verkrampften Mund heran.
»Nichts sagen«, flüsterte Flick ihm ins Ohr. »Das Fenster - leise!«
Die Hände lockerten den Griff und zogen ihn aus dem Bett, dann schlichen die beiden zum Fenster, das einen Spalt offen war. Als sie es erreichten, stieß Flick seinen Bruder an, mit Händen, die jetzt zitterten.
»Shea, am Haus - schau!«
Stumm vor Schrecken hob Shea den Kopf zur Fensterbrüstung und schaute vorsichtig hinaus in die Nacht. Er sah das Wesen fast augenblicklich - eine riesige, schreckliche, schwarze Erscheinung, halb geduckt, schleppte sich langsam durch die Schatten der Gebäude auf der anderen Seite des Gasthofs, den Buckelrücken bedeckt von einem Mantel, der sich wölbte und langsam blähte, als darunter etwas dagegenstieß und pulsierte. Das grausige Rasseln seines Atems war selbst aus dieser Entfernung deutlich vernehmbar, und die Füße erzeugten ein sonderbares schnarrendes Geräusch. Shea umklammerte das Fensterbrett, den Blick auf die sich nähernde Erscheinung gerichtet, und im gleichen Moment, in dem er sich unter dem halboffenen Fenster duckte, sah er deutlich einen Silberanhänger in Form eines funkelnden Totenschädels.
Kapitel 4
Shea sank wortlos neben seinem Bruder zusammen, und sie kauerten beide in der Dunkelheit. Sie konnten das Wesen hören, das Scharren wurde mit jeder Sekunde lauter, und sie waren gewiß, daß sie Balinors Warnung zu spät beachtet hatten. Sie warteten, wagten nicht zu sprechen, kaum zu atmen, während sie lauschten. Shea wäre am liebsten davongelaufen, hin- und hergerissen von dem Wissen, daß das Ding dort draußen ihn töten würde, wenn es ihn fand, und von der Befürchtung, erkannt und eingefangen zu werden, wenn er sich bewegte. Flick kauerte neben ihm, zitternd im kalten Nachtwind, der die Vorhänge bauschte.
Plötzlich hörten sie einen Hund heftig bellen, immer wieder, bevor er in einer Mischung aus Angst und Haß heiser zu knurren begann. Vorsichtig schoben die Brüder die Köpfe über das Fensterbrett und starrten hinaus. Das Wesen mit dem Schädelzeichen stand geduckt drei, vier Meter vor einem großen Wolfshund, der den Eindringling mit geblecktem Gebiß anknurrte. Die beiden Erscheinungen standen einander in den nächtlichen Schatten gegenüber, das Wesen atmete gleichmäßig rasselnd und langsam, und der Hund knurrte und schnappte, halb geduckt vorwärtsrückend. Dann sprang der große Wolfshund mit zornigem Fauchen das Wesen an und versuchte den schwarzen Kopf zu fassen, aber er wurde in der Luft plötzlich von einem klauenartigen Glied erfaßt, das unter dem sich wölbenden Mantel hervorschnellte, die Kehle des Tieres erwischte und es leblos auf den Boden schleuderte. Das geschah in einem einzigen Augenblick, und die Brüder waren so entgeistert, daß sie beinahe vergaßen, sich wieder zu ducken, um nicht gesehen zu werden. Sekunden später hörten sie wieder das seltsame Scharren, als das Wesen sich an der Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes entlangschleppte - aber das Geräusch wurde leiser und schien sich vom Gasthof zu entfernen.
Lange Minuten vergingen, während die Brüder atemlos im dunklen Zimmer warteten und froren. Die Nacht ringsum wurde still, und sie lauschten angestrengt. Schließlich raffte Shea genug Mut zusammen, um wieder über den Rand der Brüstung in die Dunkelheit zu blicken. Flick wollte in seiner Angst zum nächsten Ausgang springen, aber ein paar geflüsterte Worte Sheas versicherten ihm, daß die Kreatur verschwunden war. Er glitt vom Fenster zu seinem Bett zurück, erstarrte aber, als er sah, daß Shea sich im Dunkeln hastig anzog. Er wollte etwas sagen, doch Shea legte den Finger an die Lippen.
Weitere Kostenlose Bücher