Shannara I
Flick kleidete sich auf der Stelle ebenfalls an. Als sie beide fertig waren, neigte sich Shea zu seinem Bruder und flüsterte ihm ins Ohr: »Solange wir hierbleiben, sind alle hier in Gefahr. Wir müssen heute noch fort - auf der Stelle! Bist du wirklich entschlossen, mitzugehen?«
Flick nickte mit Nachdruck.
»Wir gehen in die Küche und packen etwas zu essen ein«, setzte Shea hinzu. »Nur so viel, daß wir ein paar Tage damit auskommen. Ich hinterlasse Vater einen Brief.«
Wortlos griff Shea nach seinem Bündel und verschwand lautlos im dunklen Flur, der zur Küche führte. Flick folgte ihm hastig. Im Korridor konnte man nichts sehen, und sie brauchten einige Minuten, um sich an den Wänden entlang zur breiten Küchentür vorzutasten. In der Küche zündete Shea eine Kerze an und deutete auf die Vorratsschränke, während er auf einem kleinen Blatt Papier eine Nachricht für seinen Vater kritzelte und es unter einen Krug schob. Flick war in wenigen Minuten fertig und kam zu seinem Bruder zurück, der die kleine Kerze löschte und zur Hintertür ging, wo er noch einmal stehenblieb und sich umdrehte.
»Sprich kein Wort, sobald wir draußen sind! Bleib immer hinter mir!«
Flick nickte, aber nun durfte nicht mehr gezögert werden. Shea öffnete die Holztür und blickte angestrengt hinaus in den mondbeschienenen Hinterhof, der von Baumgruppen umgeben war. Er winkte Flick, und sie traten vorsichtig hinaus in die kühle Nachtluft. Sie schlossen leise die Tür hinter sich. Im Freien war es heller, und ein schneller Blick zeigte, daß niemand zu sehen war. Bis zur Morgendämmerung mochten es nur noch Stunden sein. Die Brüder lauschten, und als auch nichts zu hören war, ging Shea voraus durch den Hof. Sie verschwanden in den Schatten einer Hecke. Flick warf einen letzten, wehmütigen Blick auf das Heim, das er vielleicht nie wiedersehen würde.
Shea suchte sich lautlos den Weg zwischen den Häusern des Dorfes. Er wußte, daß der Schädelzeichenträger nicht genau wußte, wer und wo er war, sonst hätte er ihn im Gasthof gefaßt. Aber man konnte davon ausgehen, daß das Wesen ihn im Tal vermutete und deshalb in den schlafenden Ort eingedrungen war, um nach dem verschwundenen Nachkommen des Hauses Shannara zu suchen. Shea mußte sogar davon ausgehen, daß es mehrere von diesen Wesen gab und sie wahrscheinlich das ganze Tal überwachten. Flick und er würden die Vorteile von Heimlichkeit und Verstohlenheit nützen müssen, um das Tal und die nähere Umgebung im Lauf des folgenden Tages hinter sich zu lassen. Das verlangte schnelles Tempo mit wenigen Stunden Schlaf, aber noch größer war das Problem, wohin sie sich wenden sollten. Sie hatten Nahrung nur für einige Tage dabei, und eine Reise zum Anar würde Wochen dauern. Das Land außerhalb des Tales war den Brüdern nicht vertraut, wenn man von ein paar sehr belebten Straßen und mehreren Orten absah. Gerade dort würden aber die Träger der Schädelzeichen sicher aufpassen.
Shea überlegte gründlich. Westlich des Tales war, abgesehen von einigen Dörfern, freie Landschaft, und wenn sie sich dorthin wandten, entfernten sie sich vom Anar. Gingen sie nach Süden, würden sie schließlich die vergleichsweise annehmbare Sicherheit der größeren Südlandstädte Pia und Zolomach erreichen, wo sie Freunde und Verwandte hatten. Aber das war der nächstliegende Weg für sie, den Schädelzeichenträgern zu entkommen, und bot sich deshalb auch diesen an, besonders scharf überwacht zu werden. Überdies war die Landschaft jenseits der Duln-Wälder offen und allzu übersichtlich. Sie bot wenig Deckung. Der Weg zu den Städten war weit. Nördlich des Tales gab es eine große Fläche mit dem Rappahalladran-Fluß, dem riesigen Regenbogen-See und unbesiedeltem Land, das schließlich zum Reich Callahorn führte. Die Wesen mußten auf ihrem Weg vom Norden dort durchgekommen sein. Sie kannten die Gegend gewiß besser als die Brüder und würden sie im Auge behalten, wenn sie vermuteten, daß Balinor von Tyrsis aus nach Shady Vale gekommen war.
Der Anar lag nordöstlich vom Tal, über endlose Meilen der rauhesten, gefährlichsten Landschaft im ganzen weiten Südland. Dieser direkte Weg war der gefährlichste, aber auch der, auf dem die feindlichen Späher ihn am wenigsten erwarten würden. Er wand sich durch düstere Wälder, tückisches Tiefland und verborgene Sümpfe, die jedes Jahr das Leben unvorsichtiger Reisender forderten. Aber östlich der Duln-Wälder lag noch etwas, wovon
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