Shannara V
und ungehört ging er an den Wachen vorbei, so unsichtbar für sie wie die Luft, die sie atmeten. Südwache war still und dunkel, die Mauern glatt und poliert, die Flure leer. Es vermittelte den Eindruck einer guterhaltenen Gruft. Nur die Toten gehörten hierher oder jene, die mit dem Tod Handel trieben. Er durchquerte die Katakomben, spürte das Pulsieren der in der Erde gefangenen Magie, hörte, wie sie in dem Bemühen, sich zu befreien, wisperte. Ein schlafender Riese, den Felsen-Dall und seine Schattenwesen zu zähmen gedachten, wie Pe Ell wußte. Sie hüteten ihr Geheimnis wohl, doch vor ihm konnte man keine Geheimnisse bewahren.
Als er fast den hohen Turm erreicht hatte, wo Felsen-Dall wartete, tötete er einen von denen, die Wache hielten, ein Schattenwesen, aber das spielte keine Rolle. Er tat es, weil er dazu in der Lage war und weil er Lust dazu hatte. Er verschmolz mit der schwarzen Steinmauer und wartete, bis das Geschöpf an ihm vorbeikam, angelockt von einem kleinen Geräusch, das er verursacht hatte. Dann zog er den Stiehl aus der Scheide unter seiner Hose und schnitt seinem Opfer geräuschlos den Lebensfaden ab. Der Wachmann starb in seinen Armen, sein Schatten stieg wie schwarzer Rauch vor ihm auf, während der Leib zu Asche zerfiel. Pe Ell schaute zu, wie die erstaunten Augen brachen. Er ließ die leere Uniform liegen, damit man sie finden würde.
Er lächelte, während er durch die Schatten glitt. Er tötete schon seit langer Zeit, und er beherrschte es sehr gut. Er hatte diese Begabung sehr früh in seinem Leben erkannt, seine Fähigkeit, selbst das wachsamste Opfer aufzufinden und zu zerstören, sein Gefühl, wie ihr Schutz niedergebrochen werden konnte. Der Tod machte den meisten Leuten angst, doch nicht Pe Ell. Pe Ell wurde von ihm angezogen. Der Tod war der Zwillingsbruder des Lebens und der interessantere von den beiden. Er war geheimnisvoll, unbekannt, mysteriös. Er war unvermeidlich und für immer, wenn er kam. Er war eine dunkle Festung mit unendlich vielen Kammern, die darauf warteten, erforscht zu werden. Die meisten Leute betraten sie nur einmal, und das auch nur, weil sie keine andere Wahl hatten. Pe Ell wollte bei jeder Gelegenheit eintreten können, und die Möglichkeit, dies zu tun, gaben ihm die, die er tötete. Jedesmal, wenn er jemanden sterben sah, entdeckte er ein neues Gemach, sah er einen anderen Teil des Geheimnisses. Er wurde wiedergeboren.
Hoch oben im Turm traf er auf zwei Wächter, die vor einer verschlossenen Tür postiert waren. Sie bemerkten ihn nicht, als er sich näherte. Pe Ell lauschte. Er konnte nichts hören, doch er konnte spüren, daß jemand in dem Raum hinter der Tür gefangengehalten wurde. Er überlegte einen Augenblick, ob er herausfinden sollte, wer es war. Aber das hieße, daß er danach fragen mußte, was er niemals tun würde, oder die Wachen töten mußte, wozu er keine Lust hatte. Er ging weiter.
Pe Ell stieg die verdunkelten Treppen hinauf in die Spitze der Südwache und betrat einen Saal mit unregelmäßigen Kammern, die wie Gänge in einem Labyrinth miteinander verbunden waren. Es gab keine Türen, nur Türöffnungen. Es gab keine Wachen. Pe Ell schlüpfte hinein, ein geräuschloser Teil der Nacht. Draußen war es inzwischen dunkel, vollständig schwarz, weil Wolken den Himmel zudeckten und die Welt darunter undurchdringlich machten. Pe Ell durchquerte mehrere der Kammern, lauschte und wartete.
Dann blieb er unvermittelt stehen, richtete sich auf und wandte sich um.
Felsen-Dall trat aus der Finsternis, von der er ein Teil war. Pe Ell lächelte. Felsen-Dall konnte sich ebenfalls gut unsichtbar machen.
»Wie viele hast du umgebracht?« fragte der Erste Sucher mit seiner wispernden, leisen Stimme.
»Einen«, erwiderte Pe Ell. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Vielleicht werde ich noch einen töten, wenn ich hinausgehe.«
Dalls Augen schimmerten in einem eigentümlichen Rot. »Eines Tages wirst du dieses Spiel einmal zu oft gespielt haben. Eines Tages wirst du aus Versehen dem Tod in die Quere kommen, und er wird dich schnappen statt deines Opfers.«
Pe Ell zuckte mit den Achseln. Sein eigener Tod bekümmerte ihn nicht. Er wußte, daß er kommen würde. Wenn es soweit war, würde ihm sein Gesicht vertraut sein, eins, das er sein Leben lang gekannt hatte. Für die meisten gab es die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nicht für Pe Ell. Die Vergangenheit war nichts als Erinnerungen, und Erinnerungen waren abgestandene
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