Shannara VI
folgenden Stille stieg Spirit leise zum Grasland hinab. Tiger Ty kletterte herab und kam zu Wren herüber. Sein ledriges Gesicht war schweißbedeckt. Wren streckte ihre Hände aus und ergriff die seinen.
»Geht es Euch gut, Mädchen?« fragte er ruhig, und sie konnte die tiefe Sorge in seinen scharfen Augen erkennen.
Sie lächelte. »Dank Euch. Das ist das zweite Mal an einem Tag, daß ich von Freunden gerettet wurde, die ich verloren glaubte.« Und sie erzählte ihm von Morgan Leah und den Schattenwesen der Südwache.
»Ich habe die Geächteten gestern morgen in den Drachenzähnen gefunden.« Die knorrigen Hände wollten ihre nicht loslassen und hielten sie, als habe er Angst, sie könnte verschwinden. »Ihr Anführer hat mir gesagt, daß er keinen Jungen, sondern jemand anderen gesandt hätte. Ich wußte, was geschehen war. Ich habe sie verlassen und sie gebeten, mir zu folgen, wenn sie können, und bin zu Euch zurückgekehrt. Zu spät, wie ich dachte. Ihr wurdet bereits vermißt. Wir haben den ganzen Tag nach Euch gesucht. Wir haben Rift und Grayl gefunden, aber es war kein Zeichen von Euch zu entdecken. Ich wußte, daß der Junge Euch mitgenommen haben mußte. Aber ich wußte auch, daß Ihr entkommen würdet, wenn es eine Möglichkeit gab. Ich nahm Spirit allein mit hinaus, nachdem die anderen es für diese Nacht aufgegeben hatten, und suchte weiter.« Er sah sie ernst an. »Gut, daß ich es getan habe.«
»Gut, daß Ihr es getan habt«, stimmte sie zu.
»Verdammt, habe ich Euch nicht etwas über das Aufsteigen mit jemand anderem als mir gesagt?«
Sie beugte sich nah zu ihm heran, und einen Moment lang waren ihre Gefühle so stark, daß sie nicht sprechen konnte. »Zwingt mich nicht, es zu sagen«, flüsterte sie.
Vielleicht sah er den Schmerz in ihren Augen. Vielleicht hörte er ihn in ihrer Stimme. Er hielt ihrem Blick noch einen Moment länger stand, ließ dann ihre Hände los und trat zurück. »Hauptsache, Ihr tut es nie wieder. Ich habe eine Menge Zeit und Bemühungen in Euch investiert.« Er räusperte sich. »Laßt mich nach Spirit sehen. Ich will einfach sichergehen, daß ihm wirklich nichts geschehen ist.«
Er verbrachte einige Minuten damit, den großen Rock zu untersuchen, indem er die Hände sorgfältig über den dunkel gefiederten Körper führte. Spirit beobachtete ihn mit wildem Blick. Während der Flugreiter mit ihm sprach, senkte der Rock den Schnabel, breitete seine Schwingen aus und schüttelte sich.
Zufrieden winkte Tiger Ty sie herüber. Er betrachtete den Vogel stolz. »Er hätte auf jeden Fall gewonnen, wißt Ihr«, sagte er rauh.
Wren sagte einen Moment lang nichts. Dann lächelte sie. »Das glaube ich auch.«
Tiger Ty half ihr hinauf und sicherte sie. Er streichelte Spirit anerkennend, nickte vor sich hin und schloß sich ihr dann an. Wren schaute über die nachtkalte Landschaft hinaus, die leer und still bis auf die Stelle, an der Gloons Überreste zerschmolzen und dampften, unter ihnen lag. Sie fühlte sich schwindelig und ausgelaugt, aber sie fühlte sich auch lebendig. Die Wirkung der Elfenmagie blieb bestehen und schoß durch sie hindurch wie Funken eines Feuers.
Sie hatte erneut überlebt, dachte sie, und sie fragte sich, wie lange ihr das noch gelingen würde.
»Sie werden nicht siegen«, sagte sie plötzlich. »Das werde ich nicht zulassen.«
Er fragte sie nicht, was sie meinte. Er sprach überhaupt nicht. Er sah sie nur an und nickte einmal. Dann gab er Spirit mit einem Pfiff ein Zeichen, und der große Vogel stieg auf und trug sie schnell in die Dunkelheit davon.
Kapitel 29
Morgan Leah beobachtete, wie Wren im weichenden Nachtdunkel verschwand, seine Enttäuschung darüber, daß er nicht Par gefunden hatte, wurde von der Zufriedenheit gemildert, daß seine Bemühungen nicht umsonst gewesen waren. Welch ein Zufall, daß er ausgerechnet Wren gefunden hatte! Er kam zu dem Schluß, daß die Welt kleiner war, als sie schien, und daß die Kinder von Shannara deshalb vielleicht doch eine Chance gegen die Schattenwesen hatten.
Er wandte sich bald ostwärts, betrachtete den heller werdenden Horizont, das silbergraue Licht, das in trägen, breiter werdenden Bahnen durch die Baumspitzen und die Berghänge hinabströmte. Der Tagesanbruch überraschte ihn. Die Deckung der Nacht, die ihn geschützt hatte, war bereits fort, und er war in größerer Gefahr, als er gedacht hatte.
Er schaute kurz zu dem Gehäuse des umgestürzten Wagens und dem dunklen Gewirr der toten
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