Shannara VIII
hatte sie ein Ärgernis für ihn dargestellt, weil sie ihm immer hinterherlief und alles nachmachen wollte, was er tat. Er war vier Jahre älter und die meiste Zeit wütend auf sie. Auf dem Baum hätte er sie am liebsten gelassen, wo sie war - hatte er jedenfalls gedacht. Stattdessen hatte er sich zu ihr umgedreht und hinuntergerufen: »Komm schon, Rue! Weiter! Nicht aufgeben! Du schaffst es!«
Die gleichen Worte hätte er ihr jetzt zurufen können, der kleinen Schwester, die stets versuchte, alles nachzumachen. Doch gerade, als er den Mund öffnen wollte, hob sie den Kopf, sah, wie er zu ihr herunterschaute, und begann augenblicklich zu klettern. Er lächelte in sich hinein. Diesmal stieg sie hoch, ohne innezuhalten, und er streckte ihr die Hand entgegen und half ihr über die Reling auf Deck.
Einem Impuls folgend umarmte er sie herzlich und war überrascht, als sie die Umarmung erwiderte.
Kopfschüttelnd sagte er: »Manchmal kannst du einem einen ganz schönen Schrecken einjagen.« Er blickte ihr ins nasse Gesicht und las die Erschöpfung von ihren Augen ab. »Eigentlich sogar ziemlich häufig.«
Sie grinste. »Aus deinem Munde klingt das ja wie ein richtiges Lob.«
»Die Schwarze Moclips in einem solchen Wetterchen zu steuern würde wahrscheinlich jedem einen Schrecken einjagen. Dir bestimmt auch, aber vermutlich hattest du dafür keine Zeit.«
»Da könntest du Recht haben.« Sie grinste breiter und offenbarte damit das kleine Kind, das in ihr steckte. »Ich habe der Hexe das Schiff abgenommen, großer Bruder. Mit Mannschaft und allem Drum und Dran. Es fiel mir nicht leicht, es wieder aufzugeben. Andererseits wollte ich es auch nicht verlieren.«
»Besser das Schiff stürzt ab als du. Wir brauchen es sowieso nicht. Es genügt schon, wenn die Hexe es nicht mehr hat.« Er schob seine Schwester vorwärts. »Geh nach unten und zieh dir was Trockenes an.«
Stur schüttelte sie den Kopf. »Ich brauche mich jetzt nicht umzuziehen.«
»Rue«, sagte er, und in seiner Stimme schwang eine Drohung mit. »Diesmal lasse ich mich auf keinen Streit ein. Du streitest sowieso wegen allem und jedem mit mir. Jetzt bist du von oben bis unten klitschnass und musst was Trockenes anziehen. Los, geh.«
Einen Augenblick lang zögerte sie, und er fürchtete schon, sie würde sich abermals weigern. Dann drehte sie sich schließlich um und stieg tropfend die Kajütstreppe zu den Kabinen hinunter.
Er sah ihr hinterher, bis sie verschwunden war, und dachte währenddessen, dass, gleichgültig wie alt sie beide werden würden oder was ihnen im Leben auch passierte, sich eines gewiss niemals änderte: Stets würde er der große Bruder sein und sie die kleine Schwester. Und vor allem würden sie die besten Freunde bleiben.
Mehr konnte er nicht verlangen.
Als sie wieder an Deck kam, blies der Wind so heftig, dass er sie zur Seite drückte. Regen und Graupel hatten aufgehört, doch die Luft war kalt genug, um die Härchen in ihrer Nase frieren zu lassen. Sie wickelte sich in ihren großen Mantel, in dem ihr jetzt, wo sie trockene Kleidung und Stiefel trug, langsam wieder warm wurde, und ging wankend zu ihrem Bruder und zu Spanner Frew in die Pilotenkanzel. Vorn ragten die Berge riesig und schroff in den Himmel, eine Ansammlung zerklüfteter Gipfel und steiler Felswände, die sich übereinander häuften, bis sie sich in der nebelverhangenen Ferne verloren.
Rue stieg in die Pilotenkanzel, und sofort sagte ihr Bruder: »Leg die Sicherheitsleine an.«
Das tat sie, und mit einem raschen Blick über das Schiff stellte sie fest, dass alle anderen Fahrenden ebenfalls angegurtet waren, während sie an den Strahlungssammlern und Trennröhren ihren Dienst taten.
Sie blickte über die Schulter, wo die Welt in einem dicken, dunklen Dunst verschwunden war und jede Spur der Verfolgerschiffe mit sich genommen hatte.
Der Große Rote sah sie an. »Vorhin waren sie plötzlich weg. Ich weiß nicht, ob sie die Verfolgung wegen des Wetters oder wegen der Schwarzen Moclips abgebrochen haben. Ist ja auch gleichgültig. Sie sind nicht mehr da, und das genügt. Wir haben auch genug Probleme ohne sie.«
Spanner Frew rief zu einem der Fahrenden mittschiffs etwas hinunter, und der Mann winkte zurück und machte sich daran, einen lockeren Strahlungssammler zu befestigen. Der Große Rote hatte alle Segel einholen lassen, und so fuhr die Jerle Shannara mit kahlen Masten durch den Orkan, der sie ebenso stark zur Seite driften
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