Shannara VIII
seine Eltern, an die Welt des Hochlands von Leah, an jene Tage, die so weit entfernt waren, dass sie ihm inzwischen wie ein Traum erschienen.
Bei Einbruch der Nacht konnten sie ihre Verfolger nicht mehr hören. Im Wald herrschte nach dem Sturm und nach dem Sonnenuntergang Stille, und das Land hatte seinen Frieden wiedergefunden. Bek und Truls saßen schweigend da und nahmen ihr Abendessen zu sich, gesalzenes und getrocknetes Fleisch, mürbes Brot und Käse. Grianne aß nichts, obwohl Bek mehrmals versuchte, sie dazu zu bringen. Er konnte nichts daran ändern. Wenn sie nicht essen wollte, wie sollte er sie denn zwingen? Wenigstens gelang es ihm, ihr ein wenig Wasser einzuflößen, das sie eher aus Reflex und kaum wegen seiner Bemühungen schluckte. Er machte sich Sorgen, dass sie an Kraft verlieren oder sogar sterben könnte, falls sie nichts zu sich nahm, und doch hatte er keine Ahnung, was er unternehmen sollte.
»Lass sie in Ruhe«, meinte der Gestaltwandler, als er ihn nach seiner Meinung fragte. »Sie wird schon essen, wenn sie will.«
Bek ließ das Thema fallen. Er aß, starrte in die Dunkelheit und hing seinen Gedanken hinterher.
Nachdem sie fertig waren, erhob sich der Gestaltwandler und reckte sich. »Mach deine Schwester für die Nacht fertig und leg dich schlafen. Ich werde ein Stückchen zurückgehen und schauen, ob die Rets und ihre Höllenhunde in der Nähe sind.« Er zögerte. »Ich meinte es ernst, Junge. Leg dich schlafen. Fang gar nicht erst an, Wache zu halten oder über deine Schwester nachzudenken. Du brauchst Ruhe, wenn du weiter mit mir mithalten willst.«
»Ich werde schon mithalten«, schnappte Bek zurück.
Truls Rohk lachte leise und verschwand zwischen den Bäumen. Er löste sich so plötzlich auf wie ein Gespenst. Bek starrte einen Augenblick lang hinter ihm her, dann ging er, immer noch wütend, zu seiner Schwester. Er betrachtete ihr kaltes, bleiches Gesicht - das Gesicht der Ilse-Hexe. Sie wirkte so jung, ihre Züge strahlten die Unschuld eines Kindes aus. Nichts verriet das Ungeheuer, das sich hinter diesem Antlitz verbarg.
Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überwältigte ihn. Verzweiflung ergriff Besitz von ihm bei dem Gedanken an die Dinge, die sie in ihrem Leben getan hatte, an die schrecklichen Untaten, die sie begangen hatte, an die Leben derer, die sie ruiniert hatte. Sie hatte gewusst, was sie tat, mochte sie auch noch so fehlgeleitet gewesen sein. Schließlich hatte sie ihr eigenes Benehmen gutgeheißen und es vor sich selbst gerechtfertigt. Jetzt zu erwarten, sie werde ihre Vergangenheit abstreifen wie eine Schlange ihre Haut, war absurd. Truls hatte vermutlich Recht. Sie würde niemals wieder das Kind werden, das sie einst gewesen war. Sie würde niemals wieder zu einem menschlichen Wesen werden.
Einem Impuls folgend, berührte er sie an der Wange und strich mit den Fingern über ihre glatte Haut. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, wie sie als Kind gewesen war. Sein Bild von ihr beruhte auf seinen eigenen Vorstellungen. Sie erinnerte sich an ihn, aber seine eigene Erinnerung bestand nur aus Wunschdenken und unerfüllten Hoffnungen. Zwar ähnelte sie seinem Bild von ihr beträchtlich, doch sprach das lediglich dafür, dass er es nach sich selbst gestaltet hatte. Und das war eine fehlerbehaftete Kombination. Sie sich vorzustellen, wie er sich selbst vorstellte, war töricht.
Er zog sie sanft zu sich heran. Sie näherte sich gehorsam und schlaff und ließ sich von ihm im Arm halten. Er überlegte sich, was sie wohl empfand, so in sich selbst gefangen und unfähig, sich zu befreien. Oder fühlte sie gar nichts? War sie sich all dessen, was um sie herum geschah, bewusst? Er drückte seine Wange an ihre und spürte ihre Wärme. Warum sie solch starke Gefühle in ihm auslöste, begriff er nicht. Er kannte sie doch kaum. Sie war eine Fremde für ihn, und bis vor kurzem hatte er sie zu seinen gefährlichsten Feinden gezählt. Dennoch waren seine Gefühle echt, und er konnte nicht anders, als sie zu akzeptieren. Niemals würde er seine Schwester im Stich lassen, sogar dann nicht, wenn es ihn das eigene Leben kosten würde. Dessen war er sich so sicher wie der Tatsache, dass nichts in seinem Leben je wieder so sein würde, wie es bisher gewesen war.
Teilweise war diese Verantwortung, die er für sie empfand, das Resultat seines Bedürfnisses, sich nützlich zu fühlen. Das gestand er sich durchaus ein. Sein Leben war ihm aus den Händen
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