SHANNICE STARR (German Edition)
hinab in das vorausliegende Tal richtete – wies ihr den weiteren Weg durch die einsetzende Finsternis. Und das keine Minute zu früh. Im Dunkel der Nacht hätte sie den Trail hinunter zur Stadt niemals gefunden.
Zur Stadt … – pah! Wenn das eine Stadt sein soll, würde ich unter normalen Umständen lieber in einem Schienencamp übernachten.
Die ersten Gebäude auf der Main Street machten auf Shannice den Eindruck, als müssten sie beim kleinsten Windstoß unweigerlich umkippen. Augenscheinlich hatte man sie in größter Eile errichtet und ihrem Zweck entsprechend keinen Wert auf das Äußere gelegt. Es handelte sich nicht um Wohngebäude, da es keine Fenster gab, sondern eher um Lagerschuppen und Ähnliches.
Das Gesamtbild wurde jedoch um einiges freundlicher, je weiter sie im Schritttempo in den Ort hineinritt. Und an sich konnte es ihr egal sein. Was sie wollte, war etwas zu essen, ein Bett und ein Bad. Alles andere kam ganz von alleine. Über ihren weiteren Weg würde Shannice sicher im Saloon bei einer Flasche Whisky noch genug Zeit zum Nachdenken haben.
Die Tochter einer Cheyenne und eines Engländers zügelte ihren Rappen vor einem der dicht an dicht gedrängten Häuser und kletterte aus dem Sattel. Helles Licht fiel von drinnen auf den Sidewalk; Stimmengewirr wurde laut, als sie die zwei Stufen zum Boardwalk hochstolperte, und erschlug sie vollends, als sie die Flügeltüren aufriss und eintrat.
Fast augenblicklich verstummte das Murmeln, Lachen und Singen. Auch das Banjo, das ein leidlich begabter Selfmade-Musiker malträtierte, schwieg. Ohne in jedes einzelne Gesicht zu sehen war Shannice klar, dass sie von Dutzenden Augenpaaren gemustert wurde. Die Sekunden des Schweigens dehnten sich fast endlos. Sie wagte kaum, einen Schritt zu tun, um nicht eine Reaktion auszulösen, die sie bitter bereuen würde. Also gab sie sich so, wie sie aussah: müde, hungrig und frierend.
»Machen Sie die Türen zu, Ma’am. Ist elend kalt da draußen.«
Die Stimme gehörte einem hageren Mann mit buschigem Oberlippenbart, der bewegungslos hinter der Theke stand und erst wieder mit dem Nachschenken der Gläser begann, als er die Türflügel ins Schloss schnappen hörte. Als wäre dies ein vereinbartes Zeichen gewesen, setzte auch die Geräuschkulisse wieder ein; selbst der Banjospieler scheute sich nicht, aufs Neue in die Saiten zu greifen.
Shannice nahm ihren Hut ab, öffnete den Mantel und setzte sich an den Tresen. Ohne zu fragen, hatte sie sofort ein volles Whiskyglas vor der Nase.
»Haben Sie was zu essen?«, erkundigte sie sich bei dem Wirt und drehte das Glas zwischen den Fingern. »Was Warmes.«
Sie erhielt keine Antwort. Dafür wandte der Barkeeper sich von ihr ab und rief mit der befehlsgewohnten Stimme eines Kavallerie-Sergeants in den angrenzenden Raum: »Peggy! Einmal Texas-Stew, Brot und Wasser!«
Shannice lächelte breit. Kurzerhand zog sie ihren Mantel aus, nahm den Whisky und setzte sich an einen freien Tisch in der äußersten Ecke des Raums. Von hier aus hatte sie alles gut im Blick und konnte sich die anwesenden Gestalten genauer ansehen, die die ungewöhnliche Frau nun kaum mehr zur Kenntnis nahmen.
Eine Gejagte mit indianischen Gesichtszügen, sinnierte Shannice vor sich hin. Gerade den Colts eines Killers entronnen und nun umgeben von einer Meute Angetrunkener, die keine Notiz von mir nehmen. Offenbar hatten sie Shannice als harmlos und wenig verachtenswert eingestuft. Was sie sonst von ihr hielten, war der Halbindianerin gleichgültig.
Nach der reichlichen Mahlzeit ging sie noch einmal nach draußen, führte den Hengst in einen Stall zur Futterkrippe und schnallte ihre Satteltaschen und den Scabbard ab. Danach schlug sie ihr Quartier in dem Zimmer auf, das der schmale Elliot ihr auf Nachfragen hin zugewiesen hatte.
Als sie endlich auf dem Bett lag dauerte es nicht lange, bis ihr die Augen zufielen.
Eigentlich konnte Shannice zufrieden sein. Es fehlte ihr an nichts, und die Erinnerung an Dread und die wilden Schießer in den Bergen war wie ein Bild aus ferner Vergangenheit. Vielleicht würde sie sogar ein paar Tage in dem verschlafenen Nest mit dem klangvollen Namen Pilgrim’s End bleiben. Hier fühlte sie sich gut aufgehoben, bis sie sich über ihren weiteren Weg klar geworden war. Was konnte ihr in der Abgeschiedenheit dieses Örtchens schon zustoßen …?
Shannice sollte es erfahren.
Bereits am nächsten Tag!
»… möge der Herr der armen Seele dieses Kindes ewigen
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