SHANNICE STARR (German Edition)
gefährlich leise. »Wir haben uns hier etwas aufgebaut, und niemand wird es uns wegnehmen! Egal, was noch geschieht!«
»Honey, bitte …«, versuchte Gilliam zu beschwichtigen.
»Nein, nein«, wiegelte der Mayor ab. »Ihre Frau hat recht. Wir sollten die Angelegenheit besprechen, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Ich werde ein anderes Mal auf Ihrer Farm vorbeischauen. Wir setzen uns zusammen und bereden die ganze Angelegenheit. Es liegt mir fern, Ihre Trauer zu stören.«
Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, machte Etherwood kehrt und verließ den Friedhof. Sein Pferd hatte er außerhalb des Gottesackers am Hitchrack angeleint und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war.
»Dieser lausige Halunke«, zischte Gwendoline und sah dem entschwindenden Reiter aus brennenden Augen nach.
»Vielleicht sollten wir sein Angebot überdenken«, lenkte Frank ein. »Für uns ist es viel Geld.«
»Wir haben bereits mehr bezahlt, als er uns je wiedergeben könnte«, ließ sich seine Frau nicht irritieren. »Willst du denn alles, was wir uns mühsam erarbeitet haben, einfach wegwerfen? Die Farm hat nicht nur unsere Kraft und unseren Schweiß gekostet, sondern auch das Leben unseres Sohnes. Bedeutet dir das denn gar nichts?«
Gilliam schwieg. All seine Gedanken und Gefühle standen in einem erbitterten Widerstreit. Er legte einen Arm um Gwendolines Schultern, den anderen um Billy-Bobs Hüften und verhielt lange Sekunden in dieser Haltung. Es tat ihm gut, die Wärme seiner Familie zu spüren. Einzig sein verbliebener Sohn und seine geliebte Frau konnten ihm die Kraft geben, die richtige Entscheidung zu fällen.
»Lasst uns nach Hause gehen«, war alles, was er sagte.
Als Shannice aufwachte, fühlte sie sich gut wie schon lange nicht mehr. Der entbehrungsreiche Ritt steckte ihr zwar noch in den Knochen, aber sie war ausgeruht, hatte in trockenen Sachen geschlafen und spürte, wie die Kraft in ihren ausgezehrten Körper zurückkehrte.
Sie stellte sich nackt vor eine Holzkommode und wusch sich mit dem kalten Wasser aus einer Blechschüssel. Dann warf sie einen Blick in den Spiegel. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die Schläfen und die Wange hinab zum Mundwinkel und betrachtete jede Pore, jedes Fältchen und jede Unebenheit auf der nassen Haut. Ihre Züge waren hart. Und nur, wer in ihr Herz hätte schauen können, hätte darin das verletzliche Mädchen gefunden, das einer bösen Lüge zum Opfer gefallen war und nicht mehr wusste, ob es der Liebe ihres Lebens folgen oder vor ihr flüchten sollte.
Rasch zog sich Shannice an und schnallte den Revolvergurt um. Schon auf dem obersten Absatz der Treppe, die hinunter zum Schankraum führte, hörte sie gedämpfte Stimmen. Die eine gehörte eindeutig dem Barkeeper Elliot, dessen rauer Bass sich ihr unverkennbar eingeprägt hatte; die andere war ihr unbekannt. Als Shannice mit schwerem Schritt in das Blickfeld der beiden Männer trat, verstummte das Gespräch für kurze Zeit. Zwei Augenpaare sahen sie in einer Mischung aus Misstrauen und unterschwelliger Verärgerung über die plötzliche Störung an. Shannice ignorierte beides, legte zwei Finger zu einem knappen Gruß an die Hutkrempe und setzte ein vertrauliches Lächeln auf: »Gibt’s schon was zu futtern?«
Elliots Schnauzbart zuckte einige Male hin und her, wie um zu signalisieren, was ihm gerade durch den Kopf ging und wie er Shannices Äußerung zu deuten hatte. Anscheinend hatten die beiden sich über ein ernstes Thema unterhalten, und der Keeper war sich nicht sicher, was sie davon mitbekommen hatte. Schließlich aber zerstreuten sich seine Bedenken.
»Peggy kommt erst in einer Stunde, Ma’am. Bis dahin werden Sie sich noch gedulden müssen.«
»Wie wär’s dann mit ’nem Kaffee?«
»Whisky, Ma’am. Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann. Falls Sie nicht doch lieber ein Glas Wasser haben möchten.«
Der Kerl wollte sie loswerden. Allerdings hatte sein Verhalten sie jetzt wirklich neugierig gemacht. So warf sie noch einen schnellen Blick auf den Fremden, der neben Elliot auf einem Hocker und leicht über den Tresen gebeugt dasaß, sich verlegen räusperte und Shannice dabei aus den Augenwinkeln beobachtete. Er mochte gerade über die dreißig sein und um die sechs Fuß groß. Sein Gesicht zierte ein schmaler, gepflegter Oberlippen- und Kinnbart. Nichts Auffälliges. Es handelte sich wohl eher um einen Farmer als um einen Outlaw. Doch wer
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