SHANNICE STARR (German Edition)
möglichst viel Abstand zwischen sich und ihn bringen.
»Mama, Mama, hilf mir!«, kam es flüsternd über seine Lippen, als Jeremy Gilliam merkte, dass er nicht mehr weiter konnte. Seine wachen Kinderaugen füllten sich mit Tränen, die über die Wangen kullerten. Sein Blick verschleierte sich leicht. In vollem Lauf stolperte er über eine Wurzel und fiel der Länge nach auf die inzwischen fußhoch mit Schnee bedeckte Erde. Die Schrammen, die er sich zuzog, nahm sein aufgepeitschter Verstand nicht einmal zur Kenntnis.
»Ich will doch nur nach Hause zu meiner Mum«, wimmerte Jeremy und wischte sich mit einer Hand über die Augen, während er verzweifelt nach Luft rang. Sein Brustkorb wollte explodieren unter der Anstrengung des weiten Laufs. Dennoch fand der Junge die Kraft, sich auf die Unterarme zu stützen und mühsam auf die Knie zu kommen.
Seine Gedanken überschlugen sich.
Da war der Brief an seine Eltern. Nur zufällig und mit halbem Ohr hatte er ihrem Gespräch gelauscht, obwohl es ziemlich laut zugegangen war.
Man hatte ihnen gedroht! Vor dem geistigen Auge des Kindes wurde die Szene wieder lebendig. Es sah seine Mutter, die seinem Vater das schreckliche Schreiben hinhielt, immer wieder mit dem Handrücken darauf deutete und es dann kraftlos auf den Küchentisch fallen ließ, um schließlich auf einem Stuhl zusammenzusinken, den Kopf in die Hände vergraben und schluchzend. Es sah den Vater, wie er seine Mutter sanft bei den Schultern nahm, um sie zu beruhigen, dabei fast zärtlich auf sie einredend.
Jeremy kam auf die Beine und sah sich gehetzt um.
Ich will nicht, dass der Mann mir etwas tut!, verdrängte der stumme Schrei des Jungen die Erinnerungen.
Die Schritte waren direkt hinter ihm. Nicht so schnell wie die seinen. Eher zurückhaltend und vorsichtig, als hätte sein Verfolger die Gewissheit, dass seine Beute ihm sowieso nicht entkommen konnte.
Jeremy Gilliam rannte weiter und weiter. Er wusste nicht einmal mehr, wohin ihn seine Füße trugen. Zur Farm der Eltern, hinunter in die Stadt oder einfach nur ziellos durch den Wald. Es war egal. Instinktiv spürte der Siebenjährige, dass es um sein Leben ging. Wenn er aufhörte zu rennen, würde auch sein Leben enden. Das wusste er. Diese Einsicht hatte sich tief in sein Bewusstsein eingegraben.
Er schaute nicht zurück, sah nur nach vorne. In seinen Ohren rauschte der Wind, und trotzdem war es dem Kind, als wären die Geräusche des Verfolgers in seinem Rücken verstummt.
Er hat aufgegeben. Ich bin zu schnell für ihn.
Der kleine Gilliam verdoppelte seine Anstrengungen, lief, was das Zeug hielt.
Ein donnernder Knall ließ das Kind reflexartig zusammenzucken. In die Kälte, die es umfing, drängte sich bohrende Hitze. Seine Beine knickten weg wie die Glieder einer Marionette, deren an einem Drehkreuz befestigte Fäden plötzlich durchtrennt wurden.
Jeremy Gilliam stürzte erneut. Doch dieses Mal war es anders. Er spürte kaum den Aufprall. Die sengende Hitze in seinem Rücken überlagerte alle anderen Wahrnehmungen.
Jetzt hörte er auch wieder die Schritte im knirschenden Schnee, die sich ihm unaufhaltsam näherten. Doch der Junge hatte keine Angst mehr. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich nie mehr aufraffen konnte. Aber auf schwer zu beschreibende Weise hatte er sich damit abgefunden.
Ein gewaltiger Schatten senkte sich im Antlitz des Mondes über ihn. Zumindest kam er ihm gewaltig vor. Er wollte sich auf die Seite drehen, um seinem Jäger ins Gesicht zu sehen, doch dann folgte ein weiterer Donnerschlag – und dem grellen Mündungsblitz folgte die ewige Dunkelheit!
Nicht einmal eine Stunde war vergangen, da blies Shannice der Wind derart stark um die Ohren, dass sie den Schutz der Bäume am Wegesrand aufsuchte. Stieren Blickes betrachtete sie das Schneetreiben, das eine undurchdringliche weiße Wand vor ihr aufbaute. Fast zwei weitere Stunden dauerte es, bis sich der Sturm so weit gelegt, dass sie ans Weiterreiten denken konnte. Das Einzige, was Shannice aufrecht hielt, war die Tatsache, dass die nächste Town keine zwanzig Meilen entfernt lag. Und während der verwaschene Fleck der Sonne unaufhaltsam hinter den Wipfeln mächtiger Tannen zu versinken drohte und die Landschaft sich in kalten Dämmerschein hüllte, bemerkte die junge Frau, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Warmer Lichtschein aus frostbeschlagenen Scheiben – sie konnte ihn bereits von Weitem sehen, nachdem sie den Wald hinter sich gelassen hatte und den Blick
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