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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Abdullah und wechselte ins Englische. »Sag ihm, dass ich kein Arzt bin, Abdullah. Sag ihm, dass ich nur Erste Hilfe leiste, dass ich Rattenbisse und Verletzungen durch Stacheldraht und solche Sachen behandle. Erklär ihm das. Sag ihm, dass ich keine richtige Ausbildung habe und überhaupt nichts über Lepra weiß.«
    Abdullah nickte und wandte sich wieder Ranjit zu.
    »Ja«, sagte er. »Er ist Arzt.«
    »Vielen Dank, Abdullah«, knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Ein paar Kinder brachten uns randvolle Gläser mit Wasser und Tee in abgestoßenen Tassen. Abdullah trank sein Wasser in großen, raschen Schlucken. Ranjit legte den Kopf in den Nacken, und eines der Kinder goss ihm das Wasser gurgelnd in die Kehle. Ich zögerte, weil ich panische Angst hatte, mich anzustecken. Eines der Hindi-Wörter, mit denen die Leprakranken im Slum bezeichnet wurden, hieß übersetzt die Untoten, und mir war, als hielte ich statt eines Glas Wassers die Albträume der Untoten in meiner Hand. Die ganze Welt der Krankheit und des Leidens schien in diesem Glas Wasser konzentriert zu sein.
    Doch Abdullah hatte sein Glas bereits ausgetrunken. Ich war mir sicher, dass er die Gefahren abgeschätzt und entschieden hatte, dass es ungefährlich war. Und außerdem, sagte ich mir, war nicht jeder Tag ein Risiko? Barg seit meinem großen Wagnis, der Flucht aus dem Gefängnis, nicht jede einzelne Stunde ihre eigenen Gefahren? Und so kam es, dass die wollüstige Verwegenheit des Ausbrechers meinen Arm zum Mund führte und ich das Wasser trank. Vierzig Augenpaare sahen mir dabei zu.
    Ranjits Augen waren honigfarben und trübe, vermutlich die ersten Anfänge von Grauem Star. Er musterte mich mehrmals mit unverhohlener Neugier eingehend von Kopf bis Fuß.
    »Khaderbhai hat mir gesagt, dass Sie Medikamente brauchen«, sagte er langsam auf Englisch.
    Seine Zähne schlugen beim Sprechen aufeinander, und da er keine Lippen mehr hatte, um die Worte zu formen, war er sehr schwer zu verstehen. Manche Konsonanten konnte er überhaupt nicht mehr aussprechen, und andere waren nicht wiederzuerkennen. Und weil der Mund eines normalen Sprechenden nicht nur Laute formt, sondern auch Rückschlüsse auf Stimmung, Haltung und Bedeutungsnuancen ermöglicht, fehlten bei ihm auch diese Hinweise. Und da ihm die Finger fehlten, konnte er auch sie nicht zu Hilfe nehmen. Stattdessen stand ein Kind, sein Sohn vielleicht, neben ihm und wiederholte seine Worte mit leiser, aber fester Stimme, einem Dolmetscher gleich und immer einen Atemzug hinter Ranjits Rede.
    »Wir freuen uns, wenn wir Lord Abdel Khader helfen können«, sagten die beiden Stimmen. »Ich habe die Ehre, ihm zu dienen. Wir können Ihnen jede Menge Medikamente besorgen, wöchentlich, das ist kein Problem. Erste Qualität, wie Sie gleich sehen werden.«
    Er rief einen Namen, und ein großer elf- oder zwölfjähriger Junge drängte sich durch die Menge und legte mir ein Segeltuchbündel vor die Füße. Er kniete sich hin, um es zu entrollen und eine Auswahl von Ampullen und Plastikfläschchen vorzuführen. Die Behältnisse waren neu und mit Etiketten versehen: Morphiumhydrochlorid, Penicillin und verschiedene Antibiotika gegen Staphylo- und Streptokokkeninfektionen.
    »Wo kriegen sie das Zeug her?«, fragte ich Abdullah, während ich die Medikamente durchsah.
    »Sie stehlen es«, antwortete er mir auf Hindi.
    »Sie stehlen es? Und wie?«
    »Bahut hoshiyaar«, erwiderte er. Sehr geschickt.
    »Ja, ja.«
    Der Stimmenchor um uns klang einmütig und ernst. Sie nahmen Abdullahs Lob so feierlich entgegen, als bewunderte er ein Kunstwerk, das sie alle zusammen geschaffen hatten. Gute Diebe, geschickte Diebe, hörte ich ringsum Leute murmeln.
    »Was machen sie damit?«
    »Sie verkaufen es auf dem Schwarzmarkt«, erläuterte er, immer noch auf Hindi, sodass alle Anwesenden unserer Unterhaltung folgen konnten. »Damit und durch andere äußerst geschickte Diebstähle kommen sie gut über die Runden.«
    »Das verstehe ich nicht. Warum sollte irgendwer Medikamente von ihnen kaufen wollen? Man kriegt dieses Zeug doch praktisch in jeder Apotheke.«
    »Du willst immer alles ganz genau wissen, nicht wahr, Bruder Lin? Na gut, aber dann müssen wir erst noch eine Tasse Tee trinken, denn das ist eine Zwei-Tassen-Geschichte.«
    Die Leute lachten, drängten etwas näher heran und setzten sich neben uns, um ihre Geschichte in Abdullahs Version anzuhören. Ein großer leerer Güterwagen rollte unbeaufsichtigt über ein

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