Shantaram
angrenzendes Gleis, gefährlich nah an den Hütten vorbei. Keiner widmete ihm mehr als einen flüchtigen Blick. Ein Bahnarbeiter in Khakihemd und -shorts schlenderte zwischen den Gleisen entlang und inspizierte die Schienen. Dann und wann schaute er zum Lager der Leprakranken herüber, zeigte jedoch kein größeres Interesse an uns und verschwand schließlich. Unser Tee wurde gebracht, und wir tranken ihn, während Abdullah erzählte. Einige Kinder saßen an unsere Beine gelehnt, die Arme freundschaftlich umeinandergelegt, und ein kleines Mädchen umklammerte vergnügt mein rechtes Bein.
Abdullah sprach ein sehr einfaches Hindi und wiederholte einzelne Passagen auf Englisch, sobald er merkte, dass ich ihn nicht verstanden hatte. Zuerst erzählte er von der britischen Kolonialzeit, als die Europäer ganz Indien vom Khyberpass bis zur Bucht von Bengalen beherrschten. Die firengi, die Ausländer, sagte er, wiesen den Leprakranken den niedrigsten gesellschaftlichen Rang zu. Als Unterprivilegierte wurden die Leprakranken oft nicht medizinisch versorgt und gingen leer aus, wenn Medikamente und Verbandsmaterial verteilt wurden. Die Vorräte waren begrenzt, und wenn dann noch Hungersnöte oder Überschwemmungen hinzukamen, waren selbst die traditionellen Arzneien und pflanzlichen Mittel knapp. Aus dieser Not heraus entwickelten die Leprakranken großes Geschick darin, das zu stehlen, was sie auf anderem Wege nicht bekamen – ein so großes Geschick, dass sie bald Überschüsse hatten und einen eigenen Schwarzmarkt für Medikamente gründeten.
In der Weite Indiens, fuhr Abdullah fort, gab es immer irgendwelche Konflikte – Räuberei, Aufstände, Kriege. Es wurde gekämpft und Blut vergossen, doch viel häufiger als im Kampf starben die Menschen an Krankheiten und schwärenden Wunden. Eine der besten Informationsquellen für Polizei und Regierungen bestand in der Überwachung von Medikamenten, Verbandsmaterial und Fachkenntnissen. Sämtliche Verkäufe der Apotheken, Krankenhausapotheken und Medikamentengroßhändler wurden registriert. Jeder Kauf, der erheblich über der Norm lag, erregte Aufmerksamkeit, was manchmal sogar zu Gefangennahmen und Morden führte. Eine verräterische Spur von Medikamenten, vor allem Antibiotika, hatte zum Sturz manch eines Dacoit oder Revolutionärs geführt. Die Leprakranken hingegen stellten auf ihrem Schwarzmarkt keine Fragen und verkauften an jeden, der bezahlen konnte. Ihr Netzwerk und ihre geheimen Märkte erstreckten sich über sämtliche indische Großstädte, und ihre Kunden waren Terroristen, Spione, Separatisten oder einfach außergewöhnlich ambitionierte Kriminelle.
»Diese Menschen sind dem Tod geweiht«, schloss Abdullah in seiner anschaulichen Sprache, »aber sie stehlen Leben für sich. Und dann verkaufen sie Leben an andere, die dem Tod geweiht sind.«
Als Abdullah verstummte, herrschte tiefe, drückende Stille. Alle sahen mich an. Sie schienen irgendeine Antwort zu erwarten, eine Reaktion auf diese Geschichte über ihr schlimmes Schicksal und ihre Geschicklichkeit, über ihre grausame Ausgrenzung und ihre gleichzeitige Unentbehrlichkeit. Atem zischte pfeifend durch die aufeinandergebissenen Zähne lippenloser Münder. Geduldige, ernste Augen fixierten mich erwartungsvoll.
»Könnte ich … könnte ich noch ein Glas Wasser haben?«, fragte ich auf Hindi, und das war offenbar das Richtige, denn alle fingen an zu lachen. Mehrere Kinder rannten los, um mir ein Glas zu holen, und zahlreiche Hände klopften mir auf Rücken und Schultern.
Ranjitbhai erklärte mir, dass Sunil, der Junge, der uns das Bündel mit den Arzneimitteln gezeigt hatte, Medikamentenlieferungen zu meiner Hütte bringen würde, wann immer ich sie bräuchte. Dann bat er uns, noch ein wenig länger zu bleiben, und ordnete an, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind aus seiner kleinen Schar nach vorne kommen und meine Füße berühren sollte. Es war eine Qual, eine wahre Marter, und ich flehte ihn an, es bleiben zu lassen. Doch er bestand darauf. Ein strenger Blick brannte in seinen Augen, während die Leprakranken einer nach dem anderen vorgehumpelt kamen und mit ihren ledrigen Stümpfen oder den geschwärzten, verkrümmten Klauen ihrer Fingernägel meine Füße antippten.
Eine Stunde später parkte Abdullah sein Motorrad neben dem World Trade Center. Wir standen noch einen Moment lang beisammen, und plötzlich breitete er impulsiv die Arme aus, um mich kraftvoll und herzlich an sich zu drücken. Ich
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