Shantaram
worden. Und als Gegenleistung hatte Khaderbhai ihn nun gebeten, meine kleine Praxis zu unterstützen.
»Khaderbhai ist ein Mann, der die Zukunft erschafft«, schloss Abdullah, als wir vor einer Ampel anhielten. »Die meisten von uns – auch du und ich, Bruder – warten darauf, dass die Zukunft zu ihnen kommt. Abdel Khader Khan dagegen erträumt die Zukunft, dann plant er sie sorgfältig, und zu guter Letzt sorgt er dafür, dass sie wahr wird. Das ist der Unterschied zwischen ihm und uns anderen.«
»Und was ist mit dir, Abdullah?«, rief ich, als wir wieder losbrausten. »Hat Khaderbhai dich auch geplant?«
Er lachte schallend.
»Ich glaube schon!«, antwortete er.
»Hey! Das ist doch nicht der Weg zum Slum. Wo fahren wir denn jetzt hin?«
»Wir fahren dahin, wo du ab jetzt deine Medikamente herbekommst.«
»Meine was?«
»Khaderbhai hat arrangiert, dass du jede Woche neue Medikamente bekommst. Was ich dir gebracht habe, war die erste Ladung. Jetzt fahren wir zum Schwarzmarkt für Medikamente.«
»Ein Schwarzmarkt für Medikamente? Wo ist der?«
»Im Slum der Leprakranken«, antwortete Abdullah sachlich. Dann lachte er wieder und beschleunigte, um durch eine Lücke zu flitzen, die sich just in dem Moment für ihn auftat, als er sie erreichte. »Überlass das mal mir, Bruder Lin. Du bist doch jetzt Teil des Plans, nicht wahr?«
Diese Worte – Du bist doch jetzt Teil des Plans – hätten Angst in mir wachrufen müssen. Ich hätte etwas ahnen müssen, damals schon, ganz zu Anfang. Doch ich spürte keinerlei Angst. Ich war beinahe glücklich und fand Abdullahs Worte aufregend. Sie kribbelten mir im Blut. Zu Anbeginn meines Lebens als Flüchtling wurde ich von meiner Familie, meinem Heimatland und meiner Kultur getrennt – ich war in der Verbannung. Ich dachte, das sei alles. Doch nach einigen Jahren wurde mir bewusst, dass ich Zuflucht gesucht hatte bei etwas, das mich auch in Indien zum Verbannten machte: bei der einsamen tollkühnen Freiheit des Verstoßenen. Wie Verstoßene es immer tun, umgarnte ich die Gefahr, denn sie gehörte zu den wenigen Dingen, die stark genug waren, um mich vergessen zu lassen, was ich verloren hatte. Und als ich im warmen Wind mit Abdullah durch die Straßen kurvte, sank ich so furchtlos in mein Schicksal, in diesen Nachmittag, wie ein Mann sich in das schönste Lächeln einer scheuen Frau verliebt.
Die Fahrt zum Lager der Leprakranken führte uns in einen Außenbezirk der Stadt. Es gab in Bombay mehrere staatlich eingerichtete Slums für die Leprakranken der Stadt. Durch staatliche Gelder und private Spenden finanziert, boten diese Slums den Kranken medizinische Versorgung, Betreuung und eine saubere Umgebung. Doch es galten strenge Regeln in den staatlich geförderten Slums, und nicht alle Leprakranken waren bereit, sich ihnen zu unterwerfen. Manche gingen von selbst, andere wurden hinausgeworfen. Und so lebten immer ein paar Dutzend Männer, Frauen und Kinder außerhalb der Kolonien, im größeren Verbund der Stadt.
Die großzügige Toleranz der Slumbewohner, in deren Hüttenmeer Menschen jeder Kaste, Rasse und Eigenart Aufnahme fanden, bezog sich nur selten auf Leprakranke. Gemeinderäte und Straßenkomitees duldeten ihre Anwesenheit nicht lange. Gefürchtet und gemieden, bildeten die Leprakranken mobile Slums, die binnen einer Stunde auf jeder beliebigen Fläche entstehen und noch schneller spurlos wieder verschwinden konnten. Manchmal ließen sich die Kranken für ein paar Wochen neben einer Müllkippe nieder und wehrten die Müllsammler ab, die sich dieses Eindringen in ihre Sphäre nicht gefallen lassen wollten und gegen sie vorgingen. Ein andermal errichteten sie ihr Lager auf einem sumpfigen, unbebauten Grundstück oder neben einem Abflussrohr für Industrieabwässer. Als ich sie an jenem Tag mit Abdullah zum ersten Mal besuchte, hatten sie ihre notdürftigen Behausungen auf den rostüberzogenen Steinen eines Rangierbahnhofs in der Nähe des Vororts Khar errichtet.
Wir mussten Abdullahs Motorrad vor dem Eingang zum Slum abstellen und uns ebenso durch Zaunlöcher und über Gräben Zugang zu dem Eisenbahngelände verschaffen wie die Leprakranken selbst. Viele Nahverkehrs- und Güterzüge wurden hier mit Exportwaren bestückt. Hinter dem eigentlichen Bahnhof befanden sich Verwaltungsgebäude, Lagerhäuser und Wartungsschuppen, und weiter hinten stieß man auf eine riesige Rangieranlage, ein offenes Gelände, auf dem Dutzende von Gleisen zusammenliefen. Das gesamte
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