Shantaram
Brille ab und rieb die tiefen Druckstellen auf seiner Nase. »Und waren Sie selbst schon einmal im St. George? Haben Sie mit jemandem dort darüber gesprochen?«
»Ja, zweimal. Mir wurde gesagt, die Klinik sei überlaufen, und die Slumbewohner, die eine Überweisung von einem zugelassenen Arzt vorweisen könnten, würden schneller behandelt. Ich beschwere mich nicht über das Krankenhaus, verstehen Sie mich nicht falsch. Die haben ihre eigenen Probleme, zu wenig Personal und zu viele Patienten. In meine kleine Praxis kommen fünfzig Patienten am Tag. Dort sind es sechshundert. Manchmal sogar tausend. Sicher kennen Sie die Lage. Ich glaube, die tun wirklich ihr Bestes, aber sie scheinen schon bei der Notfallbehandlung an ihre Grenzen zu stoßen. Das eigentliche Problem besteht darin, dass meine Leute nicht genug Geld haben, um zu einem richtigen Arzt zu gehen. Deshalb bekommen sie auch keine Überweisungen, mit denen sie im Krankenhaus schneller behandelt werden. Sie sind zu arm. Und deshalb wenden sie sich auch an mich.«
Doktor Hamid zog die Augenbrauen hoch und lächelte mich entspannt an.
»Sie sagen ›meine Leute‹. Sind Sie schon ein echter Inder geworden, Mr. Lin?«
Ich lachte und antwortete ihm zum ersten Mal auf Hindi, mit einer Zeile aus dem Titelsong eines Kinohits.
»In diesem Leben tun wir, was wir können, um uns zu verbessern.«
Hamid klatschte freudig überrascht in die Hände und lachte ebenfalls.
»Nun, Mr. Lin, ich denke, ich kann Ihnen helfen. Ich habe zwei Tage pro Woche hier Dienst, aber an den restlichen Tagen bin ich in meiner Praxis in der Fourth Pasta Lane.«
»Die Fourth Pasta Lane kenne ich. Das ist ganz bei uns in der Nähe.«
»Genau, und ich habe Khaderbhai nach unserem Gespräch neulich zugesagt, dass Sie mir bei Bedarf gerne Patienten schicken können. Wenn ich es für erforderlich halte, dass sie im St. George Hospital behandelt werden, kümmere ich mich um die Überweisung. Wenn Sie wollen, können wir das gleich ab morgen so machen.«
»Ja, unbedingt«, sagte ich rasch. »Ich meine, sehr gern, danke, vielen Dank. Ich weiß nur nicht, wie wir das mit der Bezahlung regeln, aber …«
»Nichts zu danken, und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Bezahlung«, sagte er mit einem Seitenblick auf Abdullah. »Ihre Leute behandle ich kostenlos. Vielleicht haben Sie Lust, nachher einen Tee mit mir zu trinken? Ich habe bald Pause. Gegenüber vom Krankenhaus ist ein Restaurant. Wenn Sie dort auf mich warten wollen, komme ich nach. Wir haben ja noch einiges zu besprechen.«
Abdullah und ich gingen in das Restaurant, wo wir zwanzig Minuten warteten und durch ein großes Fenster beobachten konnten, wie mittellose Patienten zu Fuß zum Eingang des Krankenhauses gehumpelt kamen und reiche Patienten in Taxis oder Privatwagen vorgefahren wurden. Dann gesellte sich Doktor Hamid zu uns und erklärte mir, wie ich bei meinen Überweisungen an seine Praxis in der Fourth Pasta Lane verfahren sollte.
Gute Ärzte haben mindestens drei Dinge gemeinsam: Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, können gut zuhören und sind immer müde. Hamid war ein guter Arzt, und als ich nach unserer einstündigen Unterhaltung in sein vorzeitig gealtertes Gesicht und seine vom Schlafmangel geröteten Augen blickte, beschämte mich seine ehrliche Erschöpfung. Er hätte mit einer Privatpraxis in Deutschland, Kanada oder Amerika Reichtümer anhäufen und luxuriös leben können, das wusste ich, und doch zog er es vor, für einen Bruchteil des Geldes hier bei seinen eigenen Leuten zu bleiben. Er war einer von Tausenden von Medizinern, deren berufliche Leistung sich ebenso sehr durch das auszeichnete, was sie sich versagten, wie durch das, was sie mit ihrer täglichen Arbeit leisteten. Und sie leisteten nichts Geringeres, als das Überleben der Stadt zu sichern.
Während wir uns später wieder in das Verkehrsgewirr einfädelten und Abdullah sich mit seinem Motorrad durch den Strom von Bussen, Autos, Lastern, Fahrrädern, Ochsenkarren und Fußgängern schlängelte, erzählte er mir über die Schulter Doktor Hamids Geschichte. Hamid hatte früher selbst in einem Slum gelebt. Khaderbhai förderte besonders begabte Slumkinder aus der ganzen Stadt und finanzierte ihnen den Besuch einer Privatschule und ihre gesamte Ausbildung. Viele dieser Kinder hatten mittlerweile Abschlüsse als Ärzte, Chirurgen, Krankenschwestern, Lehrer und Ingenieure. Hamid war vor über zwanzig Jahren für ein solches Stipendium ausgewählt
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