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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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lachte, als wir uns wieder trennten. Das verwirrte ihn, und er sah mich mit gerunzelter Stirn an.
    »Ist das lustig?«, fragte er.
    »Nein, überhaupt nicht«, versicherte ich ihm. »Ich habe nur nicht damit gerechnet – das war eine richtige Bärenumarmung.«
    »Eine Beerenumarmung? Wieso denn Beeren?«
    »Nein, Bären, wie das große, wilde Tier mit dem Pelz, das in Höhlen lebt und Honig frisst«, sagte ich lachend. »So eine kräftige, warme, herzliche Umarmung nennt man bei uns eine Bärenumarmung. In meiner Heimat umarmen sich Freunde so. Deine Umarmung war also einfach … gute Freundschaft.«
    »Mein Bruder«, sagte er mit entspanntem Lächeln. »Wir sehen uns morgen. Ich komme mit Sunil und bringe neue Medikamente von den Leprakranken.«
    Er fuhr los, und ich ging allein in den Slum. Ich blickte mich um, und diese Siedlung, die mir vor nicht allzu langer Zeit noch so entsetzlich trostlos vorgekommen war, erschien mir plötzlich vital und kraftvoll, eine Miniaturstadt unbegrenzter Hoffnungen und Möglichkeiten. Die Menschen, an denen ich vorüberging, waren robust und sprühten vor Energie. Ich setzte mich in meine Hütte, schloss die dünne Sperrholztür und weinte.
    Im Leid, hat Khaderbhai einmal zu mir gesagt, erproben wir unsere Liebe, insbesondere unsere Liebe zu Gott. Mir war Gott unbekannt, doch selbst als Ungläubiger hatte ich die Probe nicht bestanden. Nach diesem Tag konnte ich Gott nicht lieben – keinen Gott –, und ich konnte Gott nicht vergeben. Es war das erste Mal seit zu langer Zeit, dass ich weinte, und ich steckte noch tief in diesem Gefühlsmorast, als Prabaker in meine Hütte kam und sich neben mich hockte.
    »Ist er ein viel schlimmer Gefahrmann, Lin«, sagte er ohne Begrüßung.
    »Was?«
    »Diese Abdullah-Bursche, der war heute hier. Ist er ein viel schlimmer, große Gefahrmann. Bist du besser dran, wenn du kennst ihm nicht. Und ist es noch viel schlimmer als schlimm gefährlich, wenn du hast Sache mit ihm zu tun.«
    »Was redest du da?«
    »Ist er …« Prabaker hielt inne, und auf seinem sanften, offenen Gesicht zeichnete sich sein innerer Kampf ab. »Ist er ein Mördermann, Lin. Macht er tot die Leute, diese Bursche. Für Geld, weißt du? Ist er ein Goonda – ein Gangster – und arbeitet er für Khaderbhai. Wissen das alle. Alle, nur du nicht.«
    Ich musste nicht weiterfragen und brauchte auch keine Beweise – ich spürte, dass Prabaker recht hatte. Und während ich über seine Worte nachsann, wurde mir klar, dass ich das von Anfang an gewusst oder zumindest geahnt hatte. Die Art, wie andere ihn behandelten, das Geflüster, das er auslöste, die Angst in den Blicken verrieten ihn. Und Abdullah hatte Ähnlichkeit mit den besten und gefährlichsten Männern, die ich im Gefängnis gekannt hatte. Es musste etwas dran sein an Prabakers Bemerkung.
    Ich bemühte mich, wirklich zu begreifen, wer Abdullah war, was er tat und wie mein Verhältnis zu ihm sein sollte. Khaderbhai hatte natürlich recht. Abdullah und ich waren uns sehr ähnlich. Wir gebrauchten beide Gewalt, wenn Gewalt notwendig war, und wir scheuten uns nicht, gegen das Gesetz zu verstoßen. Wir waren beide Ausgestoßene, und wir waren beide allein auf der Welt. Und Abdullah war ebenso bereit wie ich, für jeden Anlass zu sterben, den der Tag gerade für ihn bereithielt. Doch ich hatte noch nie einen Menschen getötet. In dieser Hinsicht waren wir nicht gleich.
    Dennoch hatte ich ihn gern. Ich dachte an den Nachmittag im Slum der Leprakranken und erinnerte mich daran, wie selbstsicher ich mich dort mit ihm gefühlt hatte. Ich wusste, dass ein Teil des Gleichmuts, den ich dort an den Tag gelegt hatte, von ihm stammte. In Abdullahs Nähe war ich stark und tatkräftig. Er war der erste Mann, der seit meiner Flucht aus dem Gefängnis eine solche Wirkung auf mich hatte. Er gehörte zu jener Art von Mann, den harte Verbrecher einen Hundertprozentigen nennen: einer, der sein Leben aufs Spiel setzt für jemanden, der sein Freund ist; ein Mann, der ohne Klage oder Zweifel Schulter an Schulter mit seinem Freund gegen jede Bedrohung kämpft.
    Weil solche Männer in Büchern und Filmen häufig die Helden sind, vergessen wir leicht, wie selten sie in der Wirklichkeit vorkommen. Ich jedoch war mir dessen bewusst. Das Gefängnis hatte mich diese Erkenntnis gelehrt. Das Gefängnis reißt Männern die Maske vom Gesicht. Im Gefängnis kann man sein wahres Selbst nicht verbergen. Man kann nicht nur so tun, als sei man hart. Man ist es,

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