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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Fünfundzwanzigtausend-Seelen-Stadt ohne Polizisten und Richter, Gerichte und Gefängnisse füreinander taten. Ich dachte über etwas nach, was Qasim Ali Wochen zuvor gesagt hatte, als Faruk und Raghuram angetreten waren, um ihre Strafe zu empfangen, nachdem sie den Tag über zusammengebunden in der Latrine gearbeitet hatten. Die beiden Jungen hatten sich mit einer heißen Eimerdusche gründlich gesäubert, frische Lunghis und saubere weiße Unterhemden angezogen und traten dann vor eine Versammlung von Verwandten, Freunden und Nachbarn. Ein leichter Wind ließ die Lampen flackern, deren goldener Schein sich in den vielen Augenpaaren spiegelte, während die Schatten an den Bastmatten der Hüttenwände umherjagten. Qasim Ali verkündete, ein Rat aus muslimischen und hinduistischen Freunden und Nachbarn habe eine Strafe für die beiden beschlossen. Die Strafe dafür, dass sie sich wegen ihrer Religion geprügelt hätten, bestünde darin, dass jeder ein komplettes Gebet der Religion des anderen lernen müsse.
    »So geschieht Gerechtigkeit«, sagte Qasim Ali an jenem Abend, und seine borkenbraunen Augen, die auf die beiden Jungen gerichtet waren, blickten milder, »denn Gerechtigkeit bedeutet ein Urteil, das fair und versöhnlich ist. Und Gerechtigkeit geschieht erst dann, wenn alle zufrieden sind, auch diejenigen, die uns Unrecht getan haben und von uns bestraft werden müssen. Was wir mit diesen beiden Jungen gemacht haben, zeigt euch, dass Gerechtigkeit nicht nur in der Bestrafung derjenigen besteht, die Unrecht getan haben. Sie besteht auch darin, dass wir sie zu retten versuchen.«
    Ich kannte diese Sätze auswendig. Ich hatte sie kurz darauf in mein Tagebuch geschrieben. Und als ich an jenem Tag von Marias Qualen und Josephs Schande in meine Hütte zurückkehrte, zündete ich eine Lampe an, klappte das schwarze Tagebuch auf und starrte auf diese Worte. Irgendwo in meiner Nähe trösteten Schwestern und Freundinnen Maria und fächelten ihren geschundenen, geschlagenen Körper. In Josephs Hütte übernahmen Prabaker und Johnny Cigar die erste Schicht und wachten über den Schlaf ihres Nachbarn. Als draußen die langen Schatten des Abends in die Nacht übergingen, war es noch immer so heiß wie am Tage. Ich atmete die stehende, staubige Luft, in der die Düfte zahlreicher Kochfeuer hingen. Und still war es in diesen dunklen, nachdenklichen Momenten: so still, dass ich Schweißtropfen von meinem kummervollen Gesicht auf die Seiten fallen hörte, einen nach dem anderen, und jeder einzelne feuchte Kreis zerfloss über den Worten fair … versöhnlich … Bestrafung … erretten.

Z WÖLFTES K APITEL
     

    A us einer Woche wurden drei Wochen und aus einem Monat fünf Monate. Wenn ich in Colaba mit meinen Touristenkunden unterwegs war, begegnete ich ab und an Didier oder Vikram oder anderen aus dem Leopold’s. Manchmal sah ich auch Karla, doch ich sprach nie mit ihr. Ich wollte ihr nicht in die Augen blicken, solange ich arm war und im Slum lebte. Armut und Stolz sind Blutsbrüder und einander sehr zugetan, bis irgendwann, unweigerlich, einer den anderen tötet.
    Abdullah sah ich in diesem fünften Monat kein einziges Mal, doch eine Reihe sonderbarer und zunehmend bizarrer Boten brachte mir Nachrichten von ihm. Eines Morgens saß ich allein in meiner Hütte am Tisch und schrieb, als die Slumhunde draußen ein so wütendes Gebell anstimmten, wie ich es noch nie gehört hatte. Sie steigerten sich in eine regelrechte Raserei hinein. Ich legte meinen Stift beiseite, stand aber nicht auf. Nachts kam es öfter zu solchen Tumulten, nicht jedoch am Tage. Das Bellen klang faszinierend, aber auch bedrohlich. Als ich merkte, dass sich das Rudel meiner Hütte näherte, begann mein Herz wie wild zu pochen.
    Bündel goldenen Morgenlichts fielen durch Risse und Lücken in den instabilen Wänden aus Schilfrohrmatten. Diese Lichtstrahlen, in denen Stäubchen umhertanzten, erzitterten und erloschen immer wieder, weil draußen Leute umherrannten. Schreie und Rufe mischten sich in das aufgebrachte Gebell der Hunde. Ich sah mich um. Die einzige größere Waffe in meiner Hütte war ein dicker Bambusstab. Ich packte ihn. Das Spektakel schien sich nun direkt vor meiner Tür abzuspielen.
    Ich zog an der dünnen Sperrholzplatte, die als Tür diente, und ließ den Bambusstab auf der Stelle fallen. Einen halben Meter entfernt von mir stand ein riesiger Braunbär. Er hatte sich aufgerichtet und überragte mich, ein gewaltiger pelziger Muskelberg. Die

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