Shantaram
zusammenbrach. Als das Ende kam, war er am Boden zerstört. All sein Trotz, all sein Groll waren dahin. Schluchzend stieß er immer wieder den Namen seiner Frau hervor. Maria, Maria, Maria …
Qasim Ali stand auf und trat zu dem Kreis. Der Moment, auf den er gewartet hatte, war gekommen. Er nickte Veejay zu, der aus einer Hütte eine Schüssel warmes Wasser, ein Stück Seife und zwei Handtücher brachte. Dieselben Männer, die Joseph geschlagen hatten, nahmen ihn jetzt in den Arm und wuschen ihm Gesicht, Hals, Hände und Füße. Sie gaben ihm Wasser zu trinken. Sie kämmten ihm die Haare. Sie besänftigten ihn mit liebevollen Gesten und den ersten freundlichen Worten seit Beginn der Züchtigung. Sie sagten ihm, wenn er ehrlich bereue, werde ihm vergeben und geholfen werden. Viele Leute, darunter auch ich, wurden zu ihm geschickt, damit er unsere Füße berührte. Die Männer zogen ihm ein sauberes Hemd an, setzten ihn auf und stützten ihn vorsichtig mit ihren Armen und Schultern. Qasim Ali hockte sich dicht neben ihn und blickte in seine blutunterlaufenen Augen.
»Deine Frau, Maria, ist nicht tot«, sagte Qasim Ali leise.
»Nicht … nicht tot?«, murmelte er.
»Nein, Joseph, sie ist nicht tot. Sie ist sehr schwer verletzt, aber sie lebt.«
»Gott sei Dank, Gott sei Dank.«
»Die Frauen von deiner und Marias Familie haben entschieden, was geschehen soll«, sagte Qasim langsam und bestimmt. »Aber sag mir zuerst: Tut es dir leid – weißt du überhaupt, was du deiner Frau angetan hast? Und tut es dir leid?«
»Ja, Qasimbhai«, schluchzte Joseph. »Sehr, sehr leid.«
»Die Frauen haben entschieden, dass du Maria zwei Monate nicht sehen darfst. Sie ist sehr krank. Du hast sie fast umgebracht, und sie braucht Zeit, um zu genesen. In diesen zwei Monaten wirst du jeden Tag arbeiten. Und dein Geld sparen. Du wirst keinen Tropfen Daru oder Bier oder sonst etwas trinken, nichts außer Wasser. Verstehst du? Keinen Chai, keine Milch, nichts als Wasser. Dieses Fasten ist Teil deiner Strafe.«
Joesph nickte matt.
»Ja, ja. Mache ich.«
»Möglicherweise wird Maria beschließen, dass sie dich nicht mehr zurückhaben will; auch das sollte dir klar sein. Es kann sein, dass sie sich nach diesen zwei Monaten von dir scheiden lassen will – und wenn sie das will, werde ich sie unterstützen. Doch wenn sie dich nach den zwei Monaten wieder nimmt, dann wirst du von dem Geld, das du zusätzlich verdient hast, mit ihr Urlaub machen in den kühlen Bergen. Und während eures Aufenthalts dort wirst du dich mit der Hässlichkeit in deinem Innern auseinandersetzen und sie zu überwinden versuchen. Inshallah, wirst du deiner Frau und dir eine glückliche und tugendhafte Zukunft bereiten. So haben wir entschieden. Geh jetzt. Keine Worte mehr. Iss etwas und schlafe.«
Qasim stand auf, drehte sich um und ging. Die Freunde Josephs halfen ihm auf die Beine und stützten ihn, als sie ihn zu seiner Hütte geleiteten, die man inzwischen gesäubert hatte. Marias Kleidung und all ihre persönlichen Dinge waren daraus entfernt worden. Man gab Joseph Reis und Dhal zu essen. Er nahm ein wenig davon zu sich und legte sich dann auf seine dünne Matratze. Zwei Freunde setzten sich zu ihm und fächelten seinem geschwächten Körper mit grünen Papierfächern Luft zu. Den blutigen Stock band Johnny Cigar an einen Pfosten vor dem Haus, sodass alle ihn sehen konnten. Dort sollte er während der zwei Monate von Josephs Bestrafung hängen bleiben.
In einer Hütte in der Nähe schaltete jemand ein Radio an, und die wehmütige Melodie eines Liebeslieds auf Hindi driftete durch die Gassen des geschäftigen Slums. Irgendwo weinte ein Kind. An der Stelle, an der Joseph gepeinigt worden war, pickten und kratzten jetzt ein paar Hühner. Eine Frau lachte, Kinder spielten, und der Armreifverkäufer stieß seinen Lockruf auf Marathi aus. Ein Armreif ist Schönheit, und Schönheit ist ein Armreif!
Während der Rhythmus und die Routine des Alltags wieder Einzug hielten, ging ich durch die gewundenen Gassen zu meiner Hütte. Die Fischer und Fischerinnen kamen gerade vom Sassoon Dock zurück und brachten körbeweise Meeresgeruch mit. Es war einer der ausgleichenden Gegensätze des Slumlebens, dass genau um diese Zeit auch immer die Räucherwerkverkäufer durch die Gassen zogen und ihre Sandelholz-, Jasmin-, Rosen- und Patschuliproben abbrannten.
Ich dachte über all das nach, was ich heute erlebt hatte – was die Leute in dieser kleinen
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