Shantaram
mächtigen Tatzen befanden sich auf Höhe meiner Schultern.
Die Hunde rasten vor Wut und attackierten sich gegenseitig, weil sie sich nicht an den Bären heranwagten. Der Bär, ungerührt ob des Spektakels und der aufgeregten Menschenmenge, bückte sich ein wenig, beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht. Seine großen Augen waren topasfarben und empfindsam. Dann brummte er, und dieses Brummen, ein rumpelndes, grollendes Geräusch wirkte nicht bedrohlich auf mich, sondern beruhigend und viel wohltuender als das Gebet, das mir in meiner Angst durch den Kopf schoss. Während ich diesem Ton lauschte, verschwand meine Furcht, und ich spürte den Widerhall des tiefen Brummens in meiner eigenen Brust. Der Bär beugte sich weiter vor, bis sein Kopf nur noch Zentimeter von meinem entfernt war. Geifer löste sich von seiner Schnauze und tropfte auf seine schwarzen Tatzen. Irgendwie war ich sicher, dass dieser Bär mir nichts Böses wollte. Seine Augen sprachen etwas anderes. In diesen wenigen Sekunden, die wir uns ansahen, empfing ich die Botschaft einer tiefen animalischen Traurigkeit, unberührt von Verstand, unverfälscht in ihrer Leidenschaft, so rein und so stark, dass ich die Zeit vergaß und mir wünschte, dieses Gefühl würde nie enden.
Die Hunde grollten und heulten, halb wahnsinnig vor Angst und Wut, und fielen sich gegenseitig an, obwohl sie eigentlich den Bären zerfleischen wollten. Kinder schrien, und die Leute drängten sich dicht zusammen, um den rasenden Hunden auszuweichen. Der Bär wandte sich um, langsam und schwerfällig, doch dann schlug er blitzschnell mit seiner mächtigen Tatze nach den Hunden, die sich daraufhin zerstreuten. Ein paar junge Männer setzten ihnen nach und versuchten, sie mit Stöcken und Steinen endgültig zu verscheuchen.
Der Bär schwankte hin und her und blickte mit diesen großen schwermütigen Augen über die Menge. Jetzt, da ich ihn genauer erkennen konnte, sah ich, dass er ein Lederhalsband mit kurzen Stacheln trug, an dem zwei Ketten befestigt waren. Das Ende der Ketten befand sich in den Händen zweier Männer, die ich bislang nicht bemerkt hatte: zwei Bärenführer, die Westen, Turbane und Hosen in schrillem Blau trugen. Ihre Gesichter und Oberkörper waren im selben Blauton bemalt, ebenso die Ketten und das Halsband des Bären, der sich nun wieder zu mir umwandte. Zu meiner maßlosen Verblüffung sprach nun einer der Bärenführer meinen Namen aus.
»Mr. Lin? Sie sind Mr. Lin, ich denke?«, fragte er.
Der Bär legte den Kopf schief, als habe auch er diese Frage gestellt.
»Ja!«, riefen ein paar Leute in der Menge. »Ja! Das ist Mr. Lin! Das ist Linbaba!«
Ich stand noch immer im Eingang meiner Hütte, zu überrascht, um zu sprechen oder mich zu rühren. Die Leute lachten und johlten. Ein paar mutige Kinder schlichen sich so dicht an den Bären heran, dass sie ihn beinahe mit den Fingern anstupsen konnten. Ihre Mütter kreischten und lachten und zogen sie wieder zurück in ihre Arme.
»Wir sind Ihre Freunde«, sagte einer der beiden Männer auf Hindi. Seine Zähne funkelten weiß in seinem blauen Gesicht. »Wir bringen eine Nachricht für Sie.«
Der andere zog einen zerknitterten gelben Umschlag aus seiner Westentasche und hielt ihn hoch, damit ich ihn sehen konnte.
»Nachricht?«, brachte ich schließlich hervor.
»Ja, eine wichtige Nachricht für Sie, Sir«, sagte der andere blaugesichtige Mann. »Doch zuerst müssen Sie etwas tun. Es gibt ein Versprechen fürs Überreichen der Nachricht. Ein großes Versprechen. Es wird Ihnen gefallen.«
Das Wort vachan, Versprechen, war mir auf Hindi nicht geläufig. Ich trat aus der Hütte und drängte mich vorsichtig an dem Bären vorbei. Die Menschenmenge war größer, als ich vermutet hatte, und die Leute standen dicht beisammen, um außer Reichweite der Bärentatzen zu bleiben. Einige wiederholten das Wort vachan. Andere redeten in unterschiedlichen Sprachen wild durcheinander, und mitsamt den Schreien der jungen Männer, die Steine nach den bellenden und heulenden Hunden warfen, hörte sich das Ganze nach einem größeren Aufruhr an.
Staub wirbelte von den Wegen auf, und obwohl wir uns inmitten einer modernen Stadt befanden, hätte sich diese Szene mit der gaffenden Menge zwischen den Bambushütten auch in einem entlegenen vergessenen Tal abspielen können. Die Bärenführer, die ich nun genauer betrachten konnte, waren fantastische Gestalten. An ihrem nackten, blau bemalten Brustkorb und den Armen zeichneten sich
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