Shantaram
ich mir seit meiner Flucht gegeben hatte – nicht mehr und nicht weniger falsch. In den letzten Monaten hatte ich begonnen, die wechselnden Namen, die ich mir ausdachte oder die andere mir gaben, mit einer gewissen amüsierten Ergebenheit hinzunehmen. Lin. Niemals hätte ich diese Abkürzung für mich selbst erfunden. Doch der Name klang richtig für mich, denn ich hörte den Voodoo darin, den Klang von Fügung und Vorhersehung. Und er gehörte sofort zu mir, so wie mein verlorener, geheimer Geburtsname, unter dem ich zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden war, einst zu mir gehört hatte.
Ich blickte hinunter in Prabakers rundes Gesicht und seine großen, dunklen, schelmischen Augen und nickte, lächelte, willigte ein. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ich irgendwann unter diesem Namen, den der kleine Führer aus Bombay mir gegeben hatte, Tausenden von Menschen von Colaba bis Kandahar, von Kinshasa bis Berlin bekannt sein würde. Das Schicksal braucht Komplizen, und die Steine in seiner Mauer sind verfugt mit beiläufigen kleinen Handlungen wie dieser. Wenn ich heute zurückblicke, kann ich sehen, dass dieser scheinbar unwichtige Augenblick, in dem ich jenen Namen empfing, auf den ich mit einem einfachen Ja oder einem abergläubischen Nein reagieren konnte, tatsächlich ein Moment war, der über mein Leben bestimmte. Die Rolle, die ich unter diesem Namen spielte, und die Figur, zu der ich wurde – Linbaba – war realer und meinem wahren Selbst näher als mein bisheriges Leben.
»Ja, Lin ist okay.«
»Sehr, sehr gut! Bin ich so sehr froh, dass du diese Name magst. Und wie der mein Name bedeutet in Hindi-Sprache Sohn des Licht, hat auch dein Name prima und glücklich Bedeutung.«
»Ach ja? Was bedeutet Lin auf Hindi?«
»Penis!«, verkündete Prabaker strahlend, sichtlich in der Erwartung, dass ich seine Begeisterung teilen würde.
»Ah. Toll. Das ist wirklich … toll.«
»Ja, sehr toll, sehr glücklich, viel, viel prima. Bedeutet es das nicht genau, aber klingt wie ling, oder lingam, was heißt Penis.«
»Das geht nicht, Mann«, protestierte ich und ging weiter. »Ich kann doch nicht als Mr. Penis durch die Gegend laufen! Das meinst du nicht ernst, oder? Ich seh’s schon vor mir – oh, schön, Sie kennen zu lernen, ich heiße Penis. Ausgeschlossen. Vergiss es. Wir sollten bei Lindsay bleiben.«
»Nein! Nein! Lin, sag ich dir, ist es das prima Name, hat er große Macht, ein glücklich Name, sehr sehr glücklich! Werden sie lieben diese dein Name die Leute, wenn sie hören. Komm, zeig ich dir. Will ich diese Whiskygeschenk von dir abgeben bei mein Freund, Mr. Sanjay. Hier, in diese Laden. Kannst du sehen, wie er mag diese dein Name.«
Ein paar Schritte weiter betraten wir einen kleinen Laden. Über der offenen Tür hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift:
RADIO KRANK
Elektrische Reparatur
Elektrische Verkauf und Reparatur
Sanjay Deshpande Besitzer
Sanjay Deshpande war ein stämmiger Mann Ende fünfzig mit grauweißem Haar und buschigen weißen Augenbrauen. Er saß hinter einem dunklen Holztresen, umgeben von Billigradios, ausgeweideten Kassettenrekordern und Schachteln mit Einzelteilen. Prabaker gab einen Redeschwall auf Hindi von sich und reichte die Whiskyflasche über den Tresen. Mr. Deshpande umfasste sie mit einer fleischigen Pranke, ohne sie zu betrachten, und ließ sie unter dem Tresen verschwinden. Dann zog er ein Bündel Rupien aus seiner Hemdtasche, zählte ein paar Scheine ab und schob sie mit der flachen Hand zu Prabaker hinüber. Der griff nach dem Geld und verstaute es mit einer raschen Bewegung, die mich an den Tentakelgriff eines Tintenfischs denken ließ. Dann winkte er mich nach vorne.
»Ist das mein sehr gute Freund«, teilte er Mr. Deshpande mit und klopfte mir auf den Rücken. »Ist er aus Neuseeland.«
Mr. Deshpande gab eine Art Grunzen von sich.
»Ist heute gerade gekommen nach Bombay. Wohnt in India Guest House.«
Mr. Deshpande grunzte erneut und beäugte mich neugierig, aber nicht eben freundlich.
»Heißt er Lin. Mr. Linbaba«, verkündete Prabaker.
»Wie heißt er?«, fragte Mr. Deshpande.
»Lin.« Prabaker grinste. »Linbaba.«
Mr. Deshpande zog mit einem verblüfften Lächeln seine eindrucksvollen Brauen hoch.
»Linbaba?«
»Oh ja!«, rief Prabaker entzückt. »Lin. Lin. Und ist er auch ein sehr nette Mensch.«
Mr. Deshpande streckte mir die Hand hin. Wir begrüßten uns, dann zog Prabaker mich am Ärmel Richtung Tür.
»Linbaba!«,
Weitere Kostenlose Bücher