Shantaram
nicht deuten, ob es sich bei dieser Äußerung um eine Einladung, eine Aufforderung zum Kampf oder eine Warnung handelte, aber ich hatte die Absicht, dahinterzukommen. Ich würde dorthin gehen und nach Karla Ausschau halten. Doch zuvor wollte ich noch mehr über die Stadt erfahren, die sie so gut zu kennen schien. In einer Woche, dachte ich. Nach einer Woche in der Stadt …
Und jenseits dieser Erwägungen begegnete ich wie immer den Gedanken an meine Familie und meine Freunde, Fixsternen gleich, die sich um die kalte Sphäre meiner Einsamkeit scharten. In unerreichbarer Ferne. Um jede Nacht wand sich aufs Neue die unstillbare Sehnsucht nach allem, was ich für meine Freiheit eingebüßt, was ich verloren hatte. Jede Nacht war durchbohrt von der Lanze der Scham, weil sie für meine Freiheit so vieles einbüßten, meine Lieben, von denen ich mit Sicherheit glaubte, dass ich sie nie wiedersehen würde.
»Wir hätten den runterhandeln können, weißt du«, sagte der große Kanadier aus seiner Ecke in die Dunkelheit hinein, und der plötzliche Klang seiner Stimme in der surrenden Stille war wie der Aufprall von Steinen auf einem Blechdach. »Wir hätten den Preis für das Zimmer auf jeden Fall runterhandeln können. Wir zahlen sechs Steine pro Tag. Wir hätten ihn auf vier runterhandeln können. Man muss mit diesen Typen immer handeln und feilschen. Wir fahren ja morgen nach Delhi weiter, aber du bleibst hier. Als du vorhin weg warst, haben wir darüber geredet. Wir machen uns Sorgen um dich, Mann. Du musst lernen, wie man die runterhandelt. Wenn du es nicht lernst, so zu denken, machen die dich fertig, die Leute hier. Die Inder in den großen Städten sind höllisch geschäftstüchtig, Mann. Das ist ein tolles Land, versteh mich nicht falsch. Deshalb sind wir ja auch wieder hergekommen. Aber die Leute hier ticken anders als wir. Die sind … die erwarten das einfach, weißt du. Du musst sie runterhandeln.«
Was den Zimmerpreis betraf, hatte er natürlich recht. Wir hätten ein oder zwei Dollar günstiger wegkommen können. Und in der Tat ist Handeln sinnvoll. Die meisten Geschäfte in Indien werden auf diese Weise getätigt.
Doch er hatte auch unrecht. Der Hotelmanager Anand und ich wurden in den kommenden Jahren gute Freunde. Weil ich ihm auf den ersten Blick vertraut und nicht mit ihm gehandelt hatte, weil ich nicht versucht hatte, den Preis zu drücken, weil ich auf meinen Instinkt gehört und ihn mit Achtung behandelt hatte, war er mir von Anfang an wohlgesonnen. Das hat er mir immer wieder erzählt. Wie wir wusste Anand, dass sechs Dollar pro Tag für drei ausländische Männer kein übertriebener Preis war. Der Hotelbesitzer bekam vier Dollar pro Zimmer. Das war der Grundpreis. Die ein oder zwei Dollar mehr waren alles, was Anand und seine drei Zimmerboys als täglichen Lohn erhielten. Anand büßte sein täglich Brot ein mit jedem kleinen Sieg, den ausländische Touristen durch Feilschen errangen, und die Ausländer büßten die Gelegenheit ein, ihn zum Freund zu gewinnen.
Die simple und erstaunliche Wahrheit über Indien und die indischen Menschen besteht darin, dass es in diesem Land immer weiser ist, auf sein Herz zu hören als auf seinen Verstand. Nirgendwo anders auf der Welt ist diese Erkenntnis so wahr.
Ich wusste das noch nicht, als ich in der Dunkelheit die Augen schloss und die Stille atmete, in jener ersten Nacht in Bombay. Ich folgte meinem Instinkt und handelte auf gut Glück. Ich ahnte nicht, dass ich der Frau und der Stadt schon mein Herz geschenkt hatte. Und so sank ich in einen sanften traumlosen Schlaf, noch bevor das Lächeln auf meinen Lippen verblasste.
Z WEITES K APITEL
S ie kam um ihre übliche Zeit ins Leopold’s, und als sie an einem Nebentisch stehen blieb und sich mit Freunden unterhielt, versuchte ich einmal mehr, die richtigen Worte für das grüne Leuchten ihrer Augen zu finden. Ich dachte an Blätter, Opale und das flache Meer am Ufer von Inseln. Doch der lebende Smaragd in Karlas Augen, erleuchtet durch die Blumen goldenen Lichts in ihren Pupillen, wirkte sanfter, viel sanfter. Ich entdeckte diese Farbe schließlich, das Grün in der Natur, das Gegenstück zu dem Farbton in ihren schönen Augen, doch das geschah erst viele Monate nach diesem Abend bei Leopold’s. Und seltsamerweise erzählte ich ihr nichts davon. Heute wünsche ich mir von ganzem Herzen, ich hätte es getan. Die Vergangenheit steht auf immer und ewig zwischen zwei Spiegeln – dem hellen Spiegel der
Weitere Kostenlose Bücher