Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
das Glück – jedenfalls wollen wir es für den Moment so nennen. Wenn ich die Finger aber nach innen krümme, sie zur Faust balle – so –, dann können wir das als Leid bezeichnen. Die beiden Gesten sind in Bedeutung und Wirkung gegensätzlich. Sie sind unterschiedlich in ihrer Gestalt und ihrem Ausdruck, doch die Hand, die diese Geste macht, ist dieselbe. Das Leid ist die umgekehrte Version des Glücks.«
    Jeder Mann hatte nun abermals Gelegenheit, sich zu äußern, die Diskussion bewegte sich vor und zurück, und so manches wiederholte sich, während über zwei lange Stunden hinweg Argumente ausgeschmückt oder wieder fallengelassen wurden. Wir rauchten Haschisch, und noch zweimal wurde Tee serviert. Abdul Ghani rührte ein Kügelchen schwarzes Opium in seinen Tee und trank ihn dann auf einen Zug, wobei er das Gesicht verzog.
    Madjid veränderte seinen Standpunkt, indem er einräumte, dass Leid nicht unbedingt ein Zeichen von Schwäche sei. Er beharrte jedoch darauf, dass man sich durch einen starken Willen dagegen wappnen könne, wobei die Willensstärke aus strenger Selbstdisziplin erwachse, einer Art selbst auferlegten Leids. Farid ergänzte seine These vom Leid als einer Art Gegengift für das Glück durch Schilderungen einzelner Episoden aus dem Leben von Freunden. Der alte Sobhan flüsterte ein paar Sätze auf Urdu, und Khaderbhai übersetzte dieses neue Argument für uns: Es gebe ein paar Dinge, die Menschen niemals verstehen würden, die nur Gott verstehe, und es könne gut sein, dass dazu auch das Leid gehöre. Keki Dorabjee merkte an, dass das Universum dem parsischen Glauben zufolge ein ständiger Kampf zwischen Gegensätzen sei – zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen heiß und kalt, zwischen Leid und Freude –, und dass nichts ohne die Existenz seines Gegenteils bestehen könne. Rajubhai fügte hinzu, dass Leid ein Zustand der nicht erleuchteten Seele sei, die im Rad des Karma gefangen sei. Khaled Ansari sagte nichts mehr, trotz raffinierter Überredungsversuche von Abdul Ghani, der ihn verlockte und bedrängte und schließlich aufgab, sichtlich indigniert über die sture Verweigerung seines Sitznachbarn.
    Abdul erwies sich als der Gesprächigste und Sympathischste der Gruppe. Khaled war ein faszinierender Mensch, doch er trug eine schwelende Wut – zu viel Wut vielleicht – in sich. Madjid war im Iran Berufssoldat gewesen. Er schien mutig und direkt, neigte aber zu einer stark vereinfachenden Sicht der Welt und ihrer Bewohner. Sobhan Mahmud war zweifellos fromm, doch ihn umwehte ein leicht antiseptischer Geruch geistiger Unbeweglichkeit. Der junge Farid wiederum war offen, zurückhaltend und, so vermutete ich, zu leicht zu beeinflussen. Keki war mürrisch und teilnahmslos, und Rajubhai schien mir in einem fast unhöflichen Maß zu misstrauen. Abdul Ghani legte als einziger aus der ganzen Runde einen gewissen Humor an den Tag und lachte auch gelegentlich laut. Mit den Jüngeren ging er genauso vertraut um wie mit den Älteren. Im Gegensatz zu den anderen, die aufrecht saßen, fläzte er sich auf seinem Kissen. Er unterbrach die Redner oder warf etwas ein, wann immer es ihm beliebte, und er aß, trank und rauchte mehr als jeder andere im Raum. Besonders herzlich, beinahe respektlos, war sein Umgang mit Khaderbhai, und es stand außer Frage, dass die beiden eng befreundet waren.
    Khaderbhai stellte Fragen, hakte nach und kommentierte, doch er fügte seiner Aussage nichts mehr hinzu. Ich schwieg geistesabwesend, müde und dankbar, dass keiner mich zwang, etwas zu sagen.
    Als Khaderbhai das Treffen schließlich für beendet erklärte, begleitete er mich zu der Tür, die auf die Straße neben der Nabila-Moschee hinausging, und legte mir die Hand auf den Unterarm, um mich noch einen Moment zurückzuhalten. Er sagte mir, wie sehr er sich freue, dass ich gekommen war, und dass er hoffe, ich hätte mich gut unterhalten. Dann bat er mich, am nächsten Tag wiederzukommen, denn ich könne ihm einen Gefallen erweisen, wenn ich wolle. Überrascht und geschmeichelt sagte ich sofort zu und versprach, am nächsten Morgen bei ihm zu sein. Dann trat ich in die Nacht hinaus und dachte im nächsten Moment schon nicht mehr daran.
    Auf meinem langen Heimweg ließ ich mir noch einmal die Thesen durch den Kopf gehen, die in dieser Gruppe gelehrter Krimineller vorgebracht worden waren. Mir fielen andere, ähnliche Diskussionen ein, an denen ich im Gefängnis teilgenommen hatte. Trotz ihres meist niedrigen

Weitere Kostenlose Bücher