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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Khader. Bitte sag uns: Was denkst du über das Leid?«
    Keiner rührte sich oder sprach. In der kurzen Stille, während Khader seine Gedanken ordnete, vertiefte sich die Konzentration und Aufmerksamkeit im Raum spürbar. Jeder der Männer hatte eine eigene Meinung, sein eigenes Maß an Redegewandtheit, doch ich spürte deutlich, dass Khaderbhais Antwort maßgeblich war, dass die anderen Männer sie vielleicht sogar zu ihrer eigenen machen würden, falls sie sich wieder einmal zum Thema »Leid« äußern mussten. Khaders Miene war ausdruckslos, und er hatte den Blick bescheiden niedergeschlagen, doch er war viel zu intelligent, um nicht zu bemerken, welche Ehrfurcht er in den anderen erweckte. Und mir schien, dass er auch viel zu menschlich war, um sich nicht geschmeichelt zu fühlen. Als ich ihn besser kennen lernte, stellte ich fest, dass es ihn stets brennend interessierte, was andere über ihn dachten, dass er sich seiner Ausstrahlung und Wirkung auf seine Umgebung äußerst bewusst war und dass jedes Wort, das er zu jemandem außer Gott sprach, sorgfältig bedacht, geradezu inszeniert war. Khaderbhai wollte die Welt nachhaltig verändern. Nichts, was er je sagte oder tat, nicht einmal die ruhige Demut in seiner tiefen Stimme, mit der er damals zu uns sprach, war zufällig oder impulsiv. Alles war wohlkalkulierter Bestandteil seines großen Plans.
    »Ich würde zunächst gern etwas Grundsätzliches sagen und dann eine detailliertere Antwort folgen lassen. Gestattet ihr mir das? Gut. Also, zum Grundsätzlichen – ich glaube, dass wir durch das Leid unsere Liebe auf die Probe stellen. Jeder Akt des Leidens, sei er klein oder quälend groß, stellt in irgendeiner Weise unsere Liebe auf die Probe. Meist wird im Leid auch unsere Liebe zu Gott auf die Probe gestellt. Dies ist meine grundsätzliche Meinung. Möchte jemand etwas dazu sagen, bevor ich fortfahre?«
    Ich ließ den Blick von einem zum andern wandern. Einige Männer lächelten anerkennend, andere nickten zustimmend, wieder andere runzelten konzentriert die Stirn. Alle schienen gespannt darauf zu warten, dass Khaderbhai weitersprach.
    »Gut, dann führe ich meine These nun näher aus. Der Heilige Koran lehrt uns, dass alles auf der Welt miteinander verbunden ist, dass selbst Gegensätze auf irgendeine Weise verknüpft sind. Ich glaube, dass wir uns zweierlei vergegenwärtigen sollten, wenn wir über das Leiden nachdenken – und bei beiden Aspekten geht es sowohl um Schmerz als auch um Freude. Zunächst können wir sagen, dass Leid und Schmerz zusammenhängen, dass sie aber nicht dasselbe sind. Und dann können wir auch sagen, dass Schmerz ohne Leid existieren kann, dass es aber ebenso möglich ist, zu leiden ohne Schmerz zu empfinden. Stimmt ihr mir zu?«
    Er musterte die aufmerksamen, erwartungsvollen Gesichter und las Bestätigung darin.
    »Der Unterschied zwischen Leid und Schmerz ist, glaube ich, folgender: Die Erkenntnis, die wir aus dem Schmerz gewinnen – zum Beispiel, dass Feuer brennt und gefährlich ist –, ist immer eine persönliche, doch das Leid lehrt uns Dinge, die uns als Menschheit vereinen. Wenn wir in unserem Schmerz nicht leiden, haben wir nur über uns selbst etwas gelernt. Schmerz ohne Leid ist wie ein Sieg ohne Kampf. Durch den Schmerz lernen wir nicht, was uns stärker macht oder was uns Gott näher bringt.«
    Die anderen sahen einander an und wiegten zustimmend den Kopf.
    »Und was ist mit dem anderen Punkt, der Freude?«, fragte Abdul Ghani. Einige Männer lachten leise und grinsten Ghani an, als er von einem zum anderen blickte, und auch er grinste. »Was? Wie? Darf man denn kein gesundes, wissenschaftliches Interesse an Freude haben?«
    »Ah«, fuhr Khader fort, »damit verhält es sich, glaube ich, ähnlich wie mit dem, was Sapna Mr. Lin zufolge mit den Worten aus der Bibel der Christen gemacht hat. Das Ganze wird sozusagen auf den Kopf gestellt. Leid ist dasselbe wie Glück, nur umgekehrt. Das eine ist das Spiegelbild des anderen. Keines kann ohne das andere existieren, und keines hat ohne das andere wirkliche Bedeutung.«
    »Entschuldigung, ich verstehe nicht«, meldete sich Farid mit einem kurzen Blick in die Runde verzagt zu Wort, wobei er puterrot anlief. »Kannst du das bitte erklären?«
    »Es verhält sich folgendermaßen«, antwortete Khaderbhai liebenswürdig. »Nehmen wir meine Hand: Wenn ich sie öffne, wenn ich die Finger strecke und dir die Handfäche zeige oder dir die flache Hand auf die Schulter lege, dann ist

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