Shantaram
Bildungsstandes – oder vielleicht gerade deshalb – hatten viele der Männer, denen ich im Gefängnis begegnet war, ein lebhaftes Interesse an der Welt der Ideen. Sie nannten es nicht Philosophie, kannten den Begriff vielleicht nicht einmal, doch genau darum ging es in ihren Gesprächen sehr häufig – um abstrakte Fragen über Moral, Ethik und den Sinn des Lebens.
Es war ein langer Tag gewesen und ein noch längerer Abend. Mit Madame Zhous Foto in der Hosentasche und drückenden Schuhen an den Füßen, in denen Karlas toter Lover hätte beerdigt werden sollen, im Kopf einen Wust von Thesen über das Leiden, wanderte ich durch die allmählich leerer werdenden Straßen und erinnerte mich an eine Zelle in einem australischen Gefängnis, in der sich die Mörder und Diebe, die ich meine Freunde nannte, oft trafen, um leidenschaftlich über Wahrheit, Liebe und Tugend zu diskutieren. Ich fragte mich, ob sie ab und zu an mich dachten. Bin ich für sie zum Anlass für Tagträume geworden?, fragte ich mich, für Tagträume von Flucht und Freiheit? Wie würden sie die Frage beantworten, was Leid ist?
Ich wusste es. Khaderbhai hatte uns mit seinem außergewöhnlich scharfen Verstand und seinem brillanten Ausdrucksvermögen geblendet. Seine Definition war präzise und enthielt den nötigen Widerhaken, um das Gedächtnis anbeißen zu lassen – Leid ist die umgekehrte Version von Glück. Doch die Wahrheit über das Wesen menschlichen Leids kam an diesem Abend nicht in Khaderbhais wortgewandten Formulierungen zum Ausdruck. Die Wahrheit lag in den Worten des Palästinensers Khaled Ansari. Seine Definition ging mir nicht aus dem Sinn. Seine schlichten, ungeschönten Worte drückten klar und deutlich aus, was jeder Gefangene und jeder Mensch, der lange genug am Leben bleibt, nur allzu gut weiß: dass jede Form von Leid sich immer auf das bezieht, was man verloren hat. Wenn wir jung sind, glauben wir, Leid sei etwas, das uns zugefügt wird. Wenn wir älter werden – wenn auf die eine oder andere Art die Stahltür hinter uns ins Schloss fällt –, wissen wir, dass wahres Leid sich nach dem bemisst, was uns genommen wird.
Von meiner Erinnerung und meinem Tastsinn geleitet, ging ich durch die dunklen Gassen des Slums und fühlte mich klein, allein und einsam. Als ich in das letzte Gässchen bog, wo meine leere Hütte auf mich wartete, sah ich Licht. Nicht weit von meiner Tür entfernt stand ein Mann mit einer Laterne, neben ihm ein Kind, ein kleines Mädchen mit zerzaustem Haar. Als ich näher kam, sah ich, dass der Mann Joseph war, der Trinker, der seine Frau geprügelt hatte, und dass Prabaker im Dunkeln neben ihm stand.
»Was ist denn los?«, flüsterte ich. »Es ist spät.«
»Hallo, Linbaba. Hast du viel schöne Kleider an, abwechslungsweise.« Prabaker lächelte, und sein Gesicht schien zu schweben in dem gelben Licht. »Sind sie prima, deine Schuhe – so sauber und mit glitzern. Und kommst du gerade richtig. Macht Joseph viel gute Taten. Hat er bezahlt Geld, damit Zeichen für Glück ist es geschrieben auf alle seine Türen. Arbeitet er viel und ganze Tag, seit er ist keiner solcher übler Säuferbursche mehr. Und hat er bezahlt von das sein Geld für alles das hier. Will er helfen uns alle mit das sein Glück.«
»Das Zeichen für Glück?«
»Ja, schaust du hier, dieses Kind, schaust du die seine Hand an.« Er hob die Handgelenke des kleinen Mädchens und zeigte mir ihre Hände. In dem schwachen Licht konnte ich nicht erkennen, was ich da sehen sollte. »Schaust du, hier, hat sie nur vier Finger. Schaust du gut! Nur vier Finger. Bringt es das prima groß Glück.«
Jetzt sah ich es. An den Händen des Mädchens waren je zwei Finger miteinander verwachsen; statt Zeige- und Mittelfinger hatte sie jeweils nur einen dicken Finger. Die Handflächen des Mädchens waren blau. Joseph hatte eine flache Schale mit blauer Farbe dabei, in die das Mädchen immer wieder seine Hände tunkte, um Handabdrücke auf den Türen der Hütten in unserer Gasse zu hinterlassen – zum Schutz gegen die vielen Heimsuchungen, die dem bösen Blick zugeschrieben wurden. Die abergläubischen Slumbewohner hielten die Kleine offenbar für besonders gesegnet, weil sie mit dem seltenen Merkmal geboren war, nur vier Finger pro Hand zu besitzen. Vor meinen Augen presste sie ihre Händchen auf meine klapprige Tür. Joseph nickte kurz und ernst und führte das Mädchen zur nächsten Hütte.
»Helfe ich ihn, diese Frau-Schläger-und-viel-Trinken-Bursche,
Weitere Kostenlose Bücher