Shantaram
stark zu sein?«
»Ja«, räumte Madjid lächelnd ein, »vielleicht ist da etwas dran. Trotzdem denke ich, dass leiden eine Frage von Schwäche und Stärke ist.«
»Ich stimme unserem Bruder Madjid nicht durchweg zu«, warf Abdul Ghani ein, »aber ich meine auch, dass wir eine gewisse Kontrolle über das Leid haben. Das lässt sich, glaube ich, nicht bestreiten.«
»Woher kommt diese Kontrolle, wie erlangen wir sie?«, fragte Khaderbhai.
»Das ist wohl bei jedem unterschiedlich, aber ich würde sagen, es geschieht irgendwann in unserer Jugend, wenn wir unsere kindlichen Tränen hinter uns lassen und erwachsen werden. Ich glaube, es gehört zum Erwachsenwerden, dass wir lernen, wie man das eigene Leiden kontrollieren kann. In dieser Phase lernen wir auch, wie selten und flüchtig das Glück ist. Das zerstört unsere Vorstellungen vom Leben und verletzt uns. Das Ausmaß unseres Leidens an dieser Erkenntnis zeigt, wie sehr sie uns verletzt hat. Leiden ist auch eine Spielart des Zorns. Wir sind wütend auf die Unfreundlichkeit und Ungerechtigkeit unseres trüben und traurigen Loses. Dieser tiefe Groll, diese Wut, ist das, was wir Leiden nennen. Und, wenn ich das hinzufügen darf, diese Wut kann uns auch den Heldenfluch auferlegen.«
»Heldenfluch! Jetzt reicht es langsam! Bei jedem Thema fängst du wieder damit an!«, schimpfte Madjid und blicke finster seinen korpulenten Freund an, auf dessen Lippen ein selbstgefälliges Lächeln lag.
»Abdul hat eine Lieblingstheorie, Lin«, erklärte mir Khaled, der ernsthafte Palästinenser. »Er glaubt, dass manche Männer mit bestimmten Eigenschaften, großem Mut zum Beispiel, gleichzeitig gesegnet und geschlagen sind, weil diese Eigenschaften sie zu extremen Handlungen veranlassen. Er nennt das den Heldenfluch – also das, was einen Mann dazu bringt, andere Männer ins Chaos und Blutvergießen zu führen. Da mag etwas dran sein, aber er redet so oft davon, dass er uns damit allmählich in den Wahnsinn treibt.«
»Davon abgesehen, Abdul«, fuhr Khaderbhai unbeirrt fort, »möchte ich dir eine Frage stellen. Besteht deiner Ansicht nach ein Unterschied zwischen dem Leid, das wir selbst erfahren, und dem, das wir anderen zufügen?«
»Ja, natürlich. Worauf willst du hinaus, Khader?«
»Nun, wenn es zwei Arten von Leid gibt, die sich erheblich voneinander unterscheiden – also eines, das wir selbst erleben, und eines, das wir anderen auferlegen –, dann können die zwei Leiden nicht beide der Zorn sein, von dem du gesprochen hast, nicht wahr? Welches Leid ist also was, was würdest du sagen?«
»Ha!«, lachte Abdul Ghani. »Da hast du mich mal wieder drangekriegt, Khader, alter Fuchs! Du merkst es doch immer, wenn ich nur um des Argumentierens willen argumentiere, na ? Dabei habe ich mich für so clever gehalten! Aber keine Sorge, ich durchdenke das Ganze nochmal, und dann melde ich mich wieder.«
Er klaubte eine Süßigkeit aus der Schale auf dem Tisch, biss hinein und kaute zufrieden. Das restliche Stück Barfi in seinen dicklichen Fingern, wies er auf seinen rechten Sitznachbarn.
»Und du, Khaled? Was hast du zu Lins Thema zu sagen?«
»Ich weiß, dass Leid eine Realität ist«, murmelte Khaled leise. »Ich weiß, dass Leiden das dünne Ende der Peitsche ist und Nicht-Leiden das dicke – der Peitschengriff, den der Herr in der Hand hält.«
»Khaled, mein Lieber«, beschwerte sich Abdul Ghani. »Du bist über zehn Jahre jünger als ich, und du bist mir so lieb und teuer wie ein jüngerer Bruder, aber ich muss dir sagen, dass dieser Gedanke höchst deprimierend ist und dem Vergnügen, das uns dieses hervorragende Charras bereitet hat, eindeutig Abbruch tut.«
»Wenn ihr in Palästina geboren und aufgewachsen wärt, dann wüsstet ihr, dass manche Menschen zum Leiden geboren werden. Und für sie hört es nie auf. Keine Sekunde lang. Wenn ihr dort geboren wärt, wüsstet ihr, wo das wahre Leid seinen Ursprung hat. Da nämlich, wo auch Liebe, Freiheit und Stolz wurzeln. Und genau da gehen diese Gefühle und Ideale dann auch zuschanden. Dieses Leiden endet nie. Wir machen uns das nur vor. Wir sagen uns nur, dass es eines Tages aufhört, damit die Kinder aufhören, im Schlaf zu wimmern.«
Er blickte auf seine kräftigen Hände und starrte sie an, als wären sie zwei verhasste, besiegte Feinde, die seine Gnade erflehten. Ein bedrücktes Schweigen senkte sich über uns, und wir blickten instinktiv zu Khaderbhai. Er saß aufrecht im Schneidersitz und wiegte sich langsam
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