Shantaram
ins Krankenhaus oder zu einem Arzt, Lin. Er ist ein Flegel, ein Goonda. Er hat Angst vor der Polizei. Stimmt’s, Dummkopf? Angst vor der Polizei, na?«
»Hör auf, ihn zu schlagen, Johnny. Das hilft auch nicht weiter. Wie ist das passiert?«
»Ein Kampf. Sein Klan gegen einen anderen Klan. Sie kämpfen mit Schwertern und Hackbeilen, diese Straßengangster, und das kommt dabei raus.«
»Die anderen haben angefangen. Sie haben Eve-teasing gemacht!«, protestierte Amir. Eveteasing wurde alles genannt, was nach indischem Recht als sexuelle Belästigung galt, von Nötigung bis hin zu körperlichen Übergriffen. »Wir haben gesagt, sie sollen aufhören. Unsere Mädchen waren nicht mehr sicher. Nur deshalb haben wir gekämpft.«
Johnny hob seine breite Hand und brachte Amir zum Verstummen. Er wollte den jungen Mann wieder schlagen, doch angesichts meiner gerunzelten Stirn hielt er widerwillig inne.
»Und das soll ein Grund sein, mit Schwertern und Hackbeilen zu kämpfen, du Dummkopf? Deine Mama wird sich freuen, dass du dich in kleine Stücke hauen lässt, damit das Eve-teasing aufhört, na ? Und wie sie sich freuen wird! Und jetzt willst du, dass Linbaba dich zusammennäht und deinen Arm schön repariert. Eine Schande bist du!«
»Hör zu, Johnny. Ich kann das nicht machen. Die Wunde ist zu tief, zu schlimm … das ist eine Nummer zu groß für mich.«
»Du hast Nadeln und Fäden in deiner Medizinkiste, Lin.«
Er hatte recht. Der Verbandskasten enthielt auch Operationsnadeln und Seidenfaden, beides noch ungebraucht.
»Die habe ich noch nie benutzt, Johnny. Ich kann das nicht. Er braucht einen Profi – einen Arzt oder eine Krankenschwester.«
»Ich hab dir doch gesagt, Lin. Er will nicht ins Krankenhaus. Ich hab schon versucht, ihn zu zwingen. Jemand aus der anderen Gang ist sogar noch schlimmer verletzt als dieser dumme Junge. Vielleicht wird er sogar sterben, dieser andere Bursche. Es ist jetzt eine Polizeiangelegenheit, und sie stellen Fragen. Amir will nicht zu einem Arzt oder ins Krankenhaus.«
»Wenn du mir gibst, mache ich selbst.« Amir schluckte schwer.
In seinen aufgerissenen Augen standen Angst und panische Entschlossenheit. Ich schaute ihm zum erstenmal richtig ins Gesicht und sah, wie jung er war: höchstens sechzehn oder siebzehn. Er trug Puma-Sneakers, Jeans und ein Basketball-Trikot mit der aufgedruckten Nummer 23, eines dieser indischen Plagiate westlicher Marken. Unter seinen Altersgenossen im Slum, unter den anderen jungen Männern mit ihren mageren Körpern und den wirren Auslandsträumen, galten diese Kleider als modisch und hip. Nicht selten verzichteten junge Männer auf Essen, um sich von dem Geld Kleider zu kaufen, in denen sie wie die coolen Ausländer in Zeitschriften und Filmen auszusehen glaubten.
Ich kannte den Jungen nicht. Er war einer von Tausenden, die ich noch nie gesehen hatte, obwohl ich jetzt schon fast ein halbes Jahr im Slum lebte und niemand mehr als fünf- oder sechshundert Meter von meiner Hütte entfernt wohnte. Einige Männer, so wie Johnny Cigar und Prabaker, schienen jeden im Slum zu kennen. Ich fand es erstaunlich, dass sie auch mit Einzelheiten aus dem Leben Tausender von Menschen vertraut waren. Noch bemerkenswerter allerdings war es, dass sie Anteil am Leben all dieser Menschen nahmen – sie ermutigten oder ausschimpften oder sich um sie sorgten. Ich fragte mich, in welcher Beziehung Johnny Cigar wohl zu diesem jungen Mann stand. Amir erschauerte in der klammen Nachtluft und wimmerte mit zusammengepressten Lippen, als er daran dachte, sich selbst mit Nadel und Faden zu traktieren. Ich fragte mich, woher Johnny den Jungen so gut kannte, um mir mit einem Nicken zu bestätigen: Ja, wenn du ihm die Nadel gibst, macht er es selbst.
»Okay, okay, ich mache es«, lenkte ich ein. »Aber es wird wehtun. Ich habe kein Betäubungsmittel da.«
»Wehtun!«, schmetterte Johnny fröhlich. »Schmerzen sind kein Problem, Lin. Gut, wenn du Schmerzen hast, Amir, du chutia. Schmerzen im Gehirn solltest du haben!«
Ich wies Amir an, sich auf mein Bett zu setzen, und legte ihm eine Decke um die Schultern. Dann nahm ich den Petroleumkocher aus meiner Küchenkiste, zündete ihn an, pumpte und setzte heißes Wasser auf. Johnny lief los, um jemanden zu bitten, süßen heißen Tee zu kochen. Ich wusch mir rasch im Dunkeln an der Waschstelle neben meiner Hütte Gesicht und Hände. Als das Wasser kochte, goss ich etwas davon in eine Schüssel und warf zwei Nadeln in den Topf, um sie
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