Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
ist ein feiner Kerl.«
    »Dein … Neffe?«
    »Ja, der vierte Sohn meiner jüngsten Schwester, Farishta. Er ist elf Jahre alt. Er kann auch schon ein paar Worte Englisch, außerdem spricht er fließend Hindi, Paschto, Urdu und Marathi. Er ist nicht sehr groß für sein Alter, hat aber eine robuste Gesundheit.«
    »Dein Neffe –«, setzte ich erneut an, doch er fiel mir ins Wort.
    »Wenn du zu dem Schluss kommst, dass du mir diesen Gefallen doch erweisen kannst, wirst du feststellen, dass mein lieber Freund im Zhopadpatti, Qasim Ali Hussein – du kennst ihn natürlich –, dich auf jede erdenkliche Weise unterstützen wird. Er wird dafür Sorge tragen, dass einige Familien, seine eigene eingeschlossen, die Verantwortung mit dir teilen und dem Jungen zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten bieten. Du wirst also nicht allein sein – viele Freunde werden dir helfen, für Tariq zu sorgen. Ich möchte, dass er das harte Leben der Ärmsten der Armen kennen lernt. Doch vor allem möchte ich, dass er in den Genuss eines englischen Lehrers kommt. Das bedeutet mir sehr viel. In meiner Kindheit …«
    Er hielt inne, schaute zum Springbrunnen hinüber und ließ den Blick über die nasse Oberfläche des großen, runden Felsens wandern. Seine Augen schimmerten und reflektierten das fließende Licht auf dem Stein. Dann verdunkelte sich sein Blick, als zöge ein Wolkenschatten an einem sonnigen Tag über sanft geschwungene Hügel.
    »Also, achtundvierzig Stunden«, sagte er und seufzte, als er seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückgelenkt hatte. »Wenn du ihn danach zurückbringst, nehme ich dir das nicht übel. Doch nun musst du den Jungen endlich kennen lernen.«
    Khaderbhai machte eine Geste in Richtung des Säulengangs hinter mir, und als ich mich umdrehte, stand der Junge bereits dort. Er war wirklich klein für sein Alter. Khaderbhai hatte gesagt, er sei elf, doch Tariq sah aus, als sei er höchstens acht. Er trug eine saubere, gebügelte Kurta und Ledersandalen und hielt ein in Kattun geschnürtes Bündel in den Armen. Er starrte mich mit einem so unglücklichen, misstrauischen Gesichtsausdruck an, dass ich fürchtete, er könne jeden Moment in Tränen ausbrechen. Khaderbhai rief ihn, und der Junge kam zu uns getrottet. Mich mied er in großem Bogen und blieb schließlich auf der anderen Seite von Khaderbhais Stuhl stehen. Seine Miene war mit jedem Schritt kläglicher geworden. Khaderbhai redete rasch und streng auf Urdu mit ihm und deutete dabei mehrmals auf mich. Als er fertig war, kam der Junge zu meinem Hocker und streckte mir die Hand entgegen.
    »Guten vielen Tag«, sagte er, die Augen vor Angst und Unmut weit aufgerissen.
    Ich schüttelte seine Hand, die sich in meiner regelrecht verlor. Nichts schmiegt sich so perfekt in eine Handfläche, nichts fühlt sich so gut und richtig an, und nichts weckt einen solchen Beschützerinstinkt wie die Hand eines Kindes.
    »Auch dir einen guten Tag, Tariq«, antwortete ich und lächelte unwillkürlich.
    In seinen Augen flackerte ein winziges, hoffnungsvolles Lächeln auf, das jedoch schnell von Zweifeln erstickt wurde. Er blickte wieder zu seinem Onkel. Vor Kummer und Verzweiflung war er so angespannt, dass sein Mund ganz verbissen wirkte und seine Nasenflügel am Rand weiß wurden.
    Khaderbhai blickte den Jungen ermutigend an; dann stand er unvermittelt auf und rief mit halblauter Stimme nach Nasir.
    »Du musst mich entschuldigen, Lin. Ich muss mich um einige dringende Angelegenheiten kümmern. Wenn du nicht zurechtkommst, sehe ich dich in zwei Tagen wieder, na ? Nasir bringt dich zur Tür.«
    Er drehte sich um, ohne den Jungen noch eines Blickes zu würdigen, und verschwand im Schatten des Säulengangs. Tariq und ich sahen ihm nach und fühlten uns beide verraten und verlassen. Nasir begleitete uns zur Tür. Während ich meine Straßenschuhe anzog, kniete sich Nasir nieder und drückte den Jungen mit erstaunlich inniger Zärtlichkeit an sich. Tariq klammerte sich an ihn, fuhr mit beiden Händen durch sein Haar und musste fast gewaltsam aus der Umarmung gelöst werden. Als wir uns alle aufrichteten, bedachte mich Nasir mit einem beredten, drohenden Blick, der besagte: Wenn dem Jungen etwas passiert, bekommst du es mit mir zu tun. Dann wandte er sich von uns ab.
    Im nächsten Moment standen wir auf der Straße neben der Nabila-Moschee, ein Junge und ein Mann, nur durch ihre Hand verbunden und durch die Verblüffung darüber, wie wir allein durch die Macht einer starken

Weitere Kostenlose Bücher