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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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sogar grausam war.
    »Das machst du nicht nochmal!«, herrschte ich ihn auf Hindi an. »Lauf nie wieder weg!«
    Er erwiderte meinen Blick trotzig und verschüchtert zugleich. Dann erstarrte sein junges Gesicht zu der typischen Maske, mit der wir versuchen, Tränen zurückzuhalten. Seine Augen wurden aber trotzdem feucht, und eine einzelne Träne entwischte ihm und rollte die gerötete Wange hinab. Ich stand auf und trat einen Schritt zurück. Als ich mich umblickte, sah ich, dass ein paar Männer und Frauen stehen geblieben waren und uns anstarrten. Ihre Mienen waren ernst, aber noch nicht besorgt. Ich reichte dem Jungen die offene Hand. Er ergriff sie widerwillig, und ich steuerte den nächsten Taxistand an.
    Unterwegs blickte ich noch einmal kurz über die Schulter und stellte fest, dass die Leute uns nachsahen. Mein Herz hämmerte. Zähe, widerstreitende Gefühle tobten in mir, doch ich wusste, dass es vor allem Wut war, und zwar in erster Linie Wut auf mich selbst. Ich blieb stehen. Der Junge auch. Ich atmete ein paarmal tief durch und rang um Selbstbeherrschung. Als ich zu Tariq hinunterblickte, hatte er den Kopf schief gelegt und starrte mich konzentriert an.
    »Tut mir leid, dass ich so wütend war, Tariq«, sagte ich ruhig auf Englisch und wiederholte meine Worte noch einmal auf Hindi. »Kommt nicht wieder vor. Aber bitte, bitte lauf nicht mehr weg. Ich mache mir dann nämlich schreckliche Sorgen.«
    Jetzt strahlte der Junge mich an. Es war das erste echte Lächeln, das er mir schenkte. Und ich stellte verblüfft fest, dass es Prabakers sonnigem, breitem Lächeln ziemlich ähnlich war.
    »Himmel hilf!«, seufzte ich aus tiefstem Herzen. »Nicht noch so einer!«
    »Ja, sehr viel okay!«, stimmte Tariq zu und drückte meine Hand mit Inbrunst. »Himmel hilf mich und dich, ganze Tag, bitte!«

S ECHZEHNTES K APITEL
     

    W ann kommt sie wieder?«
    »Woher soll ich das denn wissen? Möglicherweise bald. Sie hat gesagt, dass du warten sollst.«
    »Ich weiß nicht. Es ist schon spät. Ich muss den Jungen ins Bett bringen.«
    »Wie du willst. Mir doch egal, Mann. Sie hat nur gesagt, dass du warten sollst.«
    Ich warf einen kurzen Blick auf Tariq. Er sah nicht müde aus, aber ich wusste, dass er nicht mehr der Wachste sein konnte. Deshalb entschied ich kurzerhand, dass eine kleine Ruhepause nicht schaden konnte, bevor wir zurück nach Hause wanderten. Wir zogen unsere Schuhe aus, betraten Karlas Haus und schlossen die Tür hinter uns. In dem großen, altmodischen Kühlschrank fand ich gekühltes Wasser. Ich gab Tariq ein Glas. Der Junge setzte sich auf einen Berg Kissen und begann, in einer Ausgabe der Zeitschrift India Today zu blättern.
    Lisa saß mit hochgezogenen Beinen auf Karlas Bett. Sie trug ein rotseidenes Pyjamaoberteil, mehr nicht. Man sah die blonden Haare auf ihrer Scham. Reflexartig blickte ich über die Schulter zu Tariq, um mich zu vergewissern, dass der Junge nicht ins Schlafzimmer sehen konnte. Lisa hielt eine Flasche Jack Daniels in den verschränkten Armen. Ihre langen Locken waren zu einem schief sitzenden Knoten aufgesteckt. Sie starrte mich demonstrativ abschätzig an, ein Auge zusammengekniffen, wie eine Schützin, die ihr Ziel fixiert.
    »Wo hast du denn den Kleinen aufgegabelt?«
    Ich setzte mich rittlings auf einen Stuhl und legte die Arme auf die hohe Rückenlehne.
    »Den habe ich sozusagen geerbt. Ich tue jemandem einen Gefallen.«
    »Einen Gefallen?«, fragte sie, als wäre das Wort ein Euphemismus für irgendeine Infektionskrankheit.
    »Ja. Ein Freund hat mich gebeten, dem Jungen ein bisschen Englisch beizubringen.«
    »Und was macht er dann hier? Warum ist er nicht zu Hause?«
    »Er soll mit mir leben. Um die Sprache besser zu lernen.«
    »Die ganze Zeit? Egal wo du hingehst?«
    »So ist es. Aber ich hoffe, dass ich ihn in zwei Tagen zurückbringen kann. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, welcher Teufel mich geritten hat, mich darauf einzulassen.«
    Sie lachte laut auf. Ihr Lachen klang unangenehm, gezwungen, beinahe bösartig. Doch im Kern war es ein volltönendes, sattes Lachen, das möglicherweise früher einmal sympathisch gewesen war. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und entblößte dabei eine runde Brust.
    »Ich mag Kinder nicht«, verkündete sie so stolz, als teilte sie mir mit, dass sie gerade eine bedeutende Auszeichnung erhalten hätte. Dann nahm sie einen weiteren kräftigen Zug. Die Flasche war halb leer. So angetrunken wie sie offenkundig war, musste sie gerade ihren

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