Shantaram
Persönlichkeit gegen unseren Willen zusammengefügt worden waren. Tariq hatte gehorcht, ich hingegen hatte mich in meiner Unfähigkeit, mich Khaderbhai zu widersetzen, als feige erwiesen. Ich hatte zu schnell kapituliert, und das wusste ich auch. Doch meine Selbstverachtung verwandelte sich schnell in Selbstgerechtigkeit. Wie kann er das mit einem Kind machen, dachte ich, mit seinem eigenen Neffen, wie kann er ihn einfach so in die Hände eines Fremden geben? Hat er nicht gesehen, dass der Junge nicht wollte? Was für eine gefühllose Missachtung der Rechte und des Wohlergehens von diesem Kind. Nur ein Mann, der andere als Spielzeug betrachtet, würde ein Kind jemandem wie … wie mir überlassen.
Wütend über meine Schwäche und Beeinflussbarkeit – Wie konnte ich mich nur von ihm zwingen lassen, das zu tun? – und voller Groll schleifte ich Tariq im Laufschritt durch das Gewimmel auf der Straße. Genau in dem Moment, als wir am Haupteingang der Moschee vorbeikamen, rief der Muezzin hoch über uns zum Gebet.
Allah hu Akbar Allah hu Akbar
Allah hu Akbar Allah hu Akbar
Ashhadu anla Ila haillallah
Ashhadu anla Ila haillallah
Gott ist groß, Gott ist gro ß
Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah …
Tariq riss mit beiden Händen so lange an meinem Handgelenk, bis ich stehen blieb. Er deutete erst auf den Eingang der Moschee und dann auf den Turm darüber, aus dessen Lautsprechern die Stimme des Muezzins erklang. Ich schüttelte den Kopf und sagte, dafür hätten wir keine Zeit. Doch der Kleine pflanzte die Füße fest auf den Boden und zerrte noch stärker an meinem Handgelenk. Ich erklärte ihm auf Hindi und auf Marathi, dass ich kein Moslem sei und die Moschee nicht betreten wolle. Doch er ließ nicht locker und versuchte so angestrengt, mich zum Eingang zu ziehen, dass die Venen an seinen Schläfen blau hervortraten. Schließlich löste er sich aus meinem Klammergriff und sauste die Treppe zum Eingang hinauf. Ehe ich ihn zurückhalten konnte, hatte er seine Sandalen abgestreift und war im Inneren der Moschee verschwunden.
Frustriert stand ich vor dem hohen, weit geöffneten Bogenportal der Moschee und war hin- und hergerissen. Nichtgläubige durften durchaus eintreten, das wusste ich. Grundsätzlich haben Menschen jeder Glaubensrichtung freien Zugang zu Moscheen, um dort zu beten, zu meditieren oder einfach nur das Bauwerk zu bewundern. Ich wusste aber auch, dass sich die Muslime in dieser überwiegend hinduistisch geprägten Stadt als bedrängte Minderheit verstanden und dass gewalttätige Konflikte zwischen religiösen Eiferern an der Tagesordnung waren. Prabaker hatte mich einmal darauf hingewiesen, dass es vor genau dieser Moschee Zusammenstöße zwischen militanten Hindus und Muslimen gegeben hatte.
Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ich war mir sicher, dass es noch weitere Ausgänge gab, und falls der Junge beschloss wegzulaufen, hatte ich kaum eine Chance, ihn jemals wiederzufinden. Bei dem Gedanken, dass ich zu Khaderbhai gehen und ihm sagen müsste, dass ich seinen Neffen nach weniger als hundert Metern von dem Ort verloren hätte, an dem er mir den Jungen anvertraut hatte, erfasste mich eine pulsierende, panische Angst.
Genau in dem Moment, als ich beschloss, in die Moschee zu gehen und Tariq zu suchen, sah ich ihn die riesige, kunstvoll geflieste Vorhalle durchqueren. Sein Kopf und Hände und Füße glänzten feucht, offenbar hatte er sich in aller Eile gewaschen. Ich beugte mich so weit vor, wie es mir vertretbar schien, um durch das Eingangstor ins Innere zu blicken, und beobachtete, wie der Junge hinter einer Gruppe Männer niederkniete und zu beten begann.
Ich setzte mich auf eine leere Handkarre und rauchte eine Zigarette. Zu meiner großen Erleichterung tauchte Tariq ein paar Minuten später auf, holte seine Sandalen und kam zu mir zurückgetrottet. Er trat ganz nah zu mir und blickte mit jener hinreißenden Mischung aus Stirnrunzeln und Lächeln zu mir auf, wie sie nur Kinder zuwege bringen. Er sah ängstlich und froh zugleich aus.
»Zuhr! Zuhr!«, sagte er, womit er mir zu verstehen gab, dass jetzt Zeit für das Mittagsgebet war. Seine Stimme klang erstaunlich entschieden für ein Kind. »Bin ich danke für Gott. Und du? Bist du auch danke für Gott, Linbaba?«
Ich ging vor ihm in die Hocke und packte ihn an den Armen. Er zuckte zusammen, doch ich lockerte meinen Griff nicht. Zornig sah ich ihn an. Ich wusste, dass mein Gesichtsausdruck hart, womöglich
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