Shantaram
letzten klaren Moment haben, bevor sie zu lallen begann, die Kontrolle über sich verlor und schließlich zusammenbrach.
»Hör zu, ich wollte einfach nur meine Kleider holen«, murmelte ich, während ich mich im Schlafzimmer danach umsah. »Ich nehme sie einfach mit und komme Karla ein andermal besuchen.«
»Ich mach dir ein Angebot, Gilbert.«
»Ich heiße Lin«, korrigierte ich sie, obwohl auch dieser Name falsch war.
»Ich mach dir ein Angebot, Lin. Ich sag dir, wo deine Kleider sind, wenn du mir versprichst, dass du sie hier, vor meinen Augen, anziehst.«
Wir mochten uns nicht und starrten uns mit jener aufgebrachten Feindseligkeit an, die manchmal genauso prickelnd ist wie Anziehung, vielleicht sogar noch besser.
»Mal angenommen, du verkraftest den Anblick«, sagte ich mit betont amerikanischem Akzent und musste wider Willen grinsen, »was springt dann für mich raus?«
Sie lachte wieder, und diesmal klang es kräftiger und ehrlicher.
»Du bist ganz in Ordnung, Lin. Bringst du mir ein Glas Wasser? Ich krieg so viel Durst von dem Zeug hier.«
Auf dem Weg in die kleine Küche sah ich nach Tariq. Der Junge war eingeschlafen. Sein Kopf war auf die Kissen gesunken, und sein kleiner Mund stand offen. Er hatte eine Hand unters Kinn geschmiegt, die andere umfasste noch immer die Zeitschrift. Ich nahm sie ihm aus der Hand und deckte ihn mit einem leichten Wolltuch zu, das ich von einer Hakenleiste nahm. Er rührte sich nicht und schien tief zu schlafen. Ich holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, nahm zwei Gläser und ging zurück ins Schlafzimmer.
»Der Kleine pennt«, sagte ich, während ich ihr ein Glas reichte. »Ich lass ihn mal ‘ne Weile schlafen. Wenn er nicht von selbst aufwacht, wecke ich ihn später.«
»Setz dich hierher«, befahl sie und klopfte neben sich auf die Matratze. Ich setzte mich. Sie betrachtete mich über den Rand ihres Glases hinweg, während ich zwei Gläser von dem eisgekühlten Wasser trank.
»Das Wasser ist gut«, sagte sie nach einer Weile. »Ist dir das schon mal aufgefallen, dass das Wasser hier gut ist? Richtig gut, meine ich. Man würde erwarten, dass es so ‘ne widerliche, schleimige Brühe ist, schließlich sind wir hier in Bombay. In Indien, Mann. Die Leute haben den totalen Horror vor diesem Wasser, dabei ist es tausendmal besser als die künstliche Pferdepisse, die bei uns zu Hause aus dem Wasserhahn kommt.«
»Wo ist das, zu Hause?«
»Ist doch scheißegal, Mann.« Sie sah mein ungeduldiges Stirnrunzeln und fügte rasch hinzu: »Hey, nicht sauer werden. Cool bleiben, ja? Ich will dich gar nicht blöd anmachen. Das war grade ganz ernst gemeint – hey, ist doch echt egal, oder? Ich geh nie mehr zurück, und du wirst nie dorthin kommen.«
»Vermutlich nicht.«
»Mann, ist das heiß! Ich hasse diese Jahreszeit. Kurz vor dem Monsun ist es immer am schlimmsten. Das macht mich noch wahnsinnig. Dich etwa nicht? Das ist jetzt mein vierter Monsun. Wenn man mal eine Weile hier ist, fängt man an, in Monsunen zu zählen. Didier ist ein Neun-Monsuner. Kannst du dir das vorstellen? Neun verdammte Monsune in Bombay. Und du?«
»Das ist jetzt mein zweiter. Aber ich freue mich schon darauf. Ich mag den Regen, auch wenn sich der Slum dann in einen Sumpf verwandelt.«
»Karla hat mir erzählt, dass du in einem von diesen Slums lebst. Ich weiß nicht, wie du das aushältst – diesen Gestank und diese Unmengen von Leuten, die so dicht aufeinanderhocken. Mich würden da keine zehn Pferde hinbringen.«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist – wie bei den meisten Orten und den meisten Menschen.«
Sie legte den Kopf schief und sah mich an. Ich konnte ihre Miene nicht deuten. In ihren Augen funkelte ein strahlendes, geradezu einladendes Lächeln, doch ihr Mund war zu einem verächtlichen, spöttischen Grinsen verzogen.
»Du bist echt ein komischer Kerl, Lin. Wie bist du denn wirklich an diesen Jungen geraten?«
»Das hab ich dir doch erzählt.«
»Und wie ist er so?«
»Ich denke, du magst keine Kinder?«
»Stimmt. Sie sehen so … unschuldig aus. Aber in Wirklichkeit sind sie das gar nicht. Die wissen ganz genau, was sie wollen, und geben keine Ruhe, bis sie es gekriegt haben. Es ist voll ätzend. Die ganzen Arschlöcher, die ich kenne, die wirklich miesen Leute, sind große, ausgewachsene Kinder. Das ist dermaßen widerlich, dass mir richtig übel wird.«
Von Kindern mochte ihr vielleicht übel werden – gegen die brennende Schärfe des Sour Mash Whisky schien sie
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