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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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schau, was er alles ist, was du und ich niemals sein werden, sieh, was für ein Glück wir haben, dass wir hier bei ihm sein dürfen.
    Nasir war einen Kopf kleiner als ich, aber ich nahm an, dass er um einiges schwerer war. Sein Hals war so breit, dass es aussah, als zöge er die mächtigen Schultern bis zu den Ohren hoch. Die wuchtigen Arme, über denen die Nähte seines Hemdes spannten, waren nur unwesentlich schmaler als seine Oberschenkel. Sein breites, stets finsteres Gesicht war von drei nach unten auslaufenden gekrümmten Linien gezeichnet, die den Streifen auf einem Offiziersabzeichen glichen. Die erste bestand aus seinen borstigen Augenbrauen, die genau in der Mitte seiner gerunzelten Stirn begannen und bis auf Höhe der Augenlider abfielen. Die zweite gekrümmte Linie wurde von den tiefen Furchen gebildet, die neben seinen Nasenflügeln begannen und sein Gesicht bis zum Kinn teilten. Die dritte war sein von Streitsucht und Unzufriedenheit verzerrter Mund – das Unglück bringende Hufeisen, vom Schicksal falsch herum an den Türpfosten seines Lebens genagelt.
    Eine leicht erhabene purpurne Narbe zog sich auffällig über die braune Haut seiner Stirn. Seine dunklen Augen bewegten sich in ihren tiefen Höhlen wie gejagte Lebewesen, die nach einem Versteck suchten. Seine Ohren sahen aus, als hätte irgendein Tier daran genagt und sich die Zähne stumpf gebissen oder irgendwann einfach aufgegeben. Am beeindruckendsten aber war seine Nase, ein solch gewaltiges, weit in die Welt hinausragendes Exemplar, das für etwas Größeres geschaffen schien als nur dazu, Luft und Düfte einzusaugen. Damals, als ich ihn kennen lernte, fand ich ihn hässlich, weniger weil er körperlich unattraktiv war, sondern weil er so freudlos wirkte. Ich hatte das Gefühl, noch nie ein menschliches Gesicht gesehen zu haben, aus dem das Lächeln so restlos ausradiert war.
    Das Chillum wurde mir zum dritten Mal gereicht, doch der Rauch war heiß und schmeckte unangenehm. Ich merkte an, dass es leer geraucht sei, aber Nasir riss es mir aus der Hand, zog mit wilder Entschlossenheit daran und rang ihm noch eine schmutzigbraune Rauchwolke ab. Dann klopfte er den Porzellanstein auf seiner Handfläche aus, was ein kleines Restchen weiße Asche hervorbrachte. Er vergewisserte sich, dass ich auch hinsah, dann blies er die Asche auf den Boden vor meinen Füßen, räusperte sich drohend und ging.
    »Nasir mag mich nicht besonders.«
    Khaderbhai lachte. Es war ein unvermitteltes, sehr jugendliches Lachen. Es gefiel mir, und ich stimmte unweigerlich ein, obwohl ich nicht verstand, warum er lachte.
    »Magst du Nasir?«, fragte er mich, immer noch lachend.
    »Nein, wohl eher nicht«, antwortete ich, und wir lachten noch mehr.
    »Du willst Tariq nicht Englisch lehren, weil du die Verantwortung nicht übernehmen möchtest«, sagte er, als unser Gelächter verebbt war.
    »Es ist nicht nur das … oder, doch, es ist genau das. Es ist …« Ich sah bittend in seine goldenen Augen. »Verantwortung zu übernehmen ist einfach nicht meine Stärke. Und das wäre eine … eine gewaltige Verantwortung. Es ist mir einfach zu viel. Ich kann das nicht machen.«
    Er lächelte und legte mir die Hand auf den Unterarm.
    »Ich verstehe. Du machst dir Sorgen. Das ist ganz normal. Du befürchtest, dass Tariq etwas zustoßen könnte. Du befürchtest, dass du in deiner Freiheit eingeschränkt bist, dass du nicht mehr hingehen kannst, wohin du willst, und nicht mehr machen kannst, wonach dir der Sinn steht. Das ist ganz normal.«
    »Ja«, murmelte ich erleichtert. Er verstand mich tatsächlich. Er wusste, dass ich ihm seine Bitte nicht erfüllen konnte, und er würde nicht länger darauf bestehen. Von meiner Sitzposition auf dem niedrigen Hocker aus musste ich zu ihm aufschauen und fühlte mich dadurch etwas im Nachteil. Doch gleichzeitig erfasste mich eine innige Zuneigung zu ihm, eine Zuneigung, die gerade aus den Ungleichheiten zwischen uns erwuchs, sogar darauf gründete. Es war Vasallenliebe, eines der stärksten und rätselhaftesten menschlichen Gefühle überhaupt.
    »Nun gut. Dann machen wir es folgendermaßen, Lin: Du nimmst Tariq mit und behältst ihn zwei Tage bei dir. Wenn du nach diesen achtundvierzig Stunden das Gefühl hast, dass die Situation untragbar für dich ist, bringst du ihn wieder zurück, und ich verspreche, dass ich die Sache dann ein für allemal auf sich beruhen lasse. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er dir keine Probleme machen wird. Mein Neffe

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