Shantaram
deutschen Touristen in deren Hotel, unweit von Khaderbhais Moschee. Das junge Pärchen war zum ersten Mal auf dem Subkontinent unterwegs. Die beiden wollten einen besseren Wechselkurs, indem sie Geld auf dem Schwarzmarkt tauschten, und außerdem etwas Haschisch für ihre Reise durch Indien kaufen. Sie waren ein nettes, glückliches Paar – unschuldig, großzügig und von einem spirituellen Indienbild beseelt. Gegen eine Provision wechselte ich den beiden Geld und arrangierte den Charras-Kauf. Sie waren so dankbar, dass sie sogar mehr bezahlen wollten als vereinbart. Das lehnte ich dankend ab – abgemacht ist abgemacht –, nahm aber ihre Einladung an, etwas mit ihnen zu rauchen. Für unsereins, die wir in den Straßen Bombays lebten und arbeiteten, war die Chillum-Dosis, die ich vorbereitete, ganz normal – für die beiden Touristen war sie aber stärker als alles, was sie gewohnt waren. Als ich die Tür ihres Hotelzimmers hinter mir zuzog und weiter durch die schläfrigen Nachmittagsstraßen spazierte, waren sie bereits eingeschlafen.
Ich wanderte die Mohammed Ali Road entlang zur Mahatma Gandhi Road und dann zum Colaba Causeway. Ich hätte auch den Bus oder eines der vielen ziellos herumfahrenden Taxis nehmen können, doch ich ging die Strecke gern zu Fuß. Ich liebte diesen wenige Kilometer langen Weg – vom Chor Bazaar vorbei an Crawford Market, Victoria Terminus Station, Flora Fountain, durch das Fort-Viertel, über den Regal Circle und durch Colaba weiter bis zum Sassoon Dock, dem World Trade Center und der Back Bay. Ich ging diesen Weg in jenen Jahren immer wieder und entdeckte jedes Mal etwas Neues, das mich begeisterte und inspirierte. Als ich den Regal Circle umrundete und kurz stehen blieb, um am Regal Cinema die Plakate mit den Filmankündigungen zu studieren, hörte ich jemanden meinen Namen rufen.
»Linbaba! Hey! Oh Lin!«
Ich drehte mich um und sah Prabaker aus dem Beifahrerfenster eines Taxis lehnen. Ich ging hinüber, um ihm die Hand zu geben und den Fahrer, Prabakers Cousin Shantu, zu begrüßen.
»Sind wir auf den Weg nach zu Hause. Steigst du rein, dann wir nehmen dich mit.«
»Danke, Prabu«, sagte ich lächelnd. »Aber ich gehe lieber zu Fuß. Ich muss unterwegs noch ein paar Dinge erledigen.«
»Okay, Lin!« Prabaker grinste. »Aber dauerst du nicht zu lange, ja? Nicht so viel schlimm zu lange wie sonst – wenn ich das sagen darf mitten rein in dein Gesicht. Ist heute doch ein besonderer Tag, ja?«
Ich winkte dem Auto nach, bis Prabakers Lächeln im Verkehrsgetümmel verschwunden war. Im nächsten Moment zuckte ich zusammen, weil direkt neben mir Bremsen quietschten und ein lautes Krachen zu vernehmen war. Ein Ambassador hatte versucht, einen langsameren Wagen zu überholen, und war dabei in einen schweren hölzernen Handkarren gefahren, der durch den Aufprall in die Seite eines wartenden Taxis gedrückt wurde, keine zwei Meter von mir entfernt.
Es war ein schlimmer Unfall. Der Mann, der den Handkarren gezogen hatte, war schwer verletzt. Die Stricke, die um seinen Hals und seine Schultern lagen – das Zuggeschirr – fesselten ihn an das Joch des Karrens. So eingespannt, hatte er sich bei dem Aufprall überschlagen und war mit dem Kopf auf den harten Boden geprallt. Einer seiner Arme war in einem erschreckend unnatürlichen Winkel nach hinten abgespreizt. Unter dem einen Knie ragte ein Stück seines Schienbeins heraus. Und die Stricke, an denen er seinen Karren Tag für Tag durch die Stadt zog, hatten sich so fest um seinen Hals und seine Brust geschlungen, dass er zu ersticken drohte.
Ich eilte mit einigen anderen zu ihm und zog im Laufen mein Messer aus der Scheide hinten an meinem Gürtel. Schnell, aber so behutsam wie möglich schnitt ich die Stricke durch und befreite den Mann aus dem Wrack seines Karrens. Er war schon älter, um die sechzig, doch er war schlank und wirkte fit und gesund. Sein schneller Herzschlag war gleichmäßig und kräftig: eine starke Energiequelle, die seine Genesung fördern würde. Seine Atemwege waren frei, und als ich ihm sanft die Lider aufzog, reagierten seine Pupillen auf das Licht. Er stand unter Schock und war benommen, aber nicht bewusstlos. Zusammen mit drei anderen Männern hob ich ihn von der Straße auf den Gehweg. Sein linker Arm hing schlaff herunter, und ich winkelte ihn vorsichtig an. Auf meine Bitte hin gaben mir mehrere Schaulustige ihre Taschentücher. Ich knotete vier davon an den Ecken zu einer improvisierten Schlinge zusammen,
Weitere Kostenlose Bücher