Shantaram
erlaubten, das Mädchen zu untersuchen, obwohl es nur mit einem dünnen Unterrock bekleidet war, der ihre Schultern und den größten Teil der einen Brust freigab.
Parvatis Schwester Sita hockte in einer Ecke der Hütte. Sie hatte vor Angst die Augen weit aufgerissen, und ihr hübsches Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Dass wir es hier nicht mit einer normalen Krankheit zu tun hatten, schien sie instinktiv zu wissen.
Johnny Cigar sprach auf Hindi mit dem Mädchen. Sein Ton war streng, beinahe brutal. Er wies sie darauf hin, dass das Leben ihrer Schwester in ihren Händen liege, und tadelte sie für ihre Feigheit. Schritt für Schritt führte seine Stimme sie aus dem finsteren Wald ihrer Angst heraus. Schließlich blickte sie auf und sah ihm in die Augen, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie schüttelte sich, dann kroch sie zu ihrer Schwester, um ihr mit einem feuchten Waschlappen den Mund abzuwischen. Mit diesem Appell zur tätigen Hilfe und mit Sitas schlichter, fürsorglicher Geste begann der Kampf.
Cholera. Bei Einbruch der Nacht zählten wir bereits zehn schwere und ein Dutzend mutmaßlicher Fälle. Als der Morgen graute, hatten wir bereits sechzig Schwerkranke, und geschlagene hundert Slumbewohner zeigten erste Symptome. Gegen Mittag starb das erste Opfer. Es war Radha, meine Nachbarin.
Der Beamte vom städtischen Gesundheitsamt war ein müder, mitfühlender, intelligenter Mann Anfang vierzig namens Sandib Jyoti. Seine teilnahmsvollen Augen waren von fast dem gleichen dunklen Gelbbraun wie seine schweißglänzende Haut. Seine Haare waren zerzaust, und er strich sie immer wieder mit der schmalen rechten Hand aus dem Gesicht. Um den Hals trug er einen Mundschutz, den er sich jedes Mal überstreifte, wenn er eine der Hütten betrat oder mit einem der Kranken in Kontakt kam. Nachdem er einen Rundgang durch den Slum gemacht hatte, blieb er zusammen mit Doktor Hamid, Qasim Ali Hussein, Prabaker und mir neben meiner Hütte stehen.
»Wir nehmen diese Proben mit und lassen sie analysieren«, sagte er mit einem Nicken zu einem seiner Assistenten, der Blut-, Sputum- und Stuhlproben in einem metallenen Koffer verstaute. »Aber ich bin mir sicher, dass Sie recht haben, Hamid. Von hier bis Kandivli haben sich noch zwölf andere Choleraherde gebildet, größtenteils breiten sie sich aber nicht weiter aus. Nur in Thane sieht es schlecht aus – die haben mehr als hundert neue Fälle pro Tag. Die örtlichen Krankenhäuser sind alle überfüllt. Trotzdem sieht es dafür, dass wir jetzt Monsunzeit haben, gar nicht so schlecht aus. Wir hoffen, dass wir die Seuche insoweit eindämmen können, dass wir nicht mehr als fünfzehn, zwanzig Infektionsherde haben.«
Ich wartete darauf, dass einer der anderen etwas sagte, aber die nickten nur ernst.
»Wir müssen die Leute hier ins Krankenhaus bringen«, sagte ich schließlich.
»Hören Sie zu«, erwiderte er, sah sich kurz um und holte tief Luft, »ein paar von den kritischen Fällen können wir nehmen. Das arrangiere ich. Aber alle geht einfach nicht. Ich will Ihnen nichts vormachen: In zehn anderen Barackenlagern sieht es genauso aus wie bei Ihnen. Ich bin in allen gewesen und habe allen dasselbe sagen müssen: Sie müssen das alleine ausfechten, irgendwie.«
»Sind Sie wahnsinnig?«, fuhr ich ihn an und spürte, wie mir die Angst in den Magen kroch. »Wir haben heute Morgen schon meine Nachbarin Radha verloren. Hier leben an die dreißigtausend Menschen. Wir können das nicht alleine schaffen, das ist absurd. Sie sind das Gesundheitsamt, verflucht!«
Sandib Jyoti schaute zu, wie sein Assistent den Probenkoffer verschloss und sicherte. Als er sich mir wieder zuwandte, lag Zorn in seinen rot unterlaufenen Augen. Meine Empörung ärgerte ihn, nicht zuletzt, weil die Reaktion von einem Ausländer kam, und es war ihm unangenehm, dass er nicht mehr für die Slumbewohner tun konnte. Wenn es nicht so offensichtlich gewesen wäre, dass ich im Slum lebte und arbeitete und dass die Leute mich nicht nur mochten, sondern sich auch auf mich verließen, hätte er mich zum Teufel geschickt. Ich sah, wie sich all diese Gedanken auf seinem müden Gesicht abzeichneten. Dann strich er sich durch das zerzauste Haar und lächelte geduldig und resigniert, beinahe herzlich.
»Hören Sie, das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass mir ein Ausländer aus einem dieser reichen Länder einen Vortrag darüber hält, wie schlecht wir für unsere Leute sorgen oder wie viel ein Menschenleben
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