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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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gelesen«, antwortete er und sah mich an. In seinen sonst so mutig in die Welt blickenden Augen lag ein Ausdruck scheuer Sorge. »Warum? Stimmt es nicht? Habe ich es falsch gesagt? Ich habe das Buch zu Hause. Soll ich es holen?«
    »Nein, nein, es stimmt alles. Es … stimmt vollkommen.«
    Jetzt war es an mir, in Schweigen zu verfallen. Ich war zornig auf mich selbst. Obwohl ich die Slumbewohner so gut kannte und tief in ihrer Schuld stand – sie hatten mich aufgenommen und waren über die Maßen freigebig gewesen mit ihrer Freundschaft und Unterstützung –, hielt ich mich noch immer für etwas Besseres. Johnny hatte mich mit seinem Wissen schockiert, weil ich unbewusst wohl der Meinung war, Slumbewohner hätten kein Anrecht auf solches Wissen. In meinem tiefsten Innern hatte ich sie aufgrund ihrer Armut als dumm abgestempelt, obwohl ich es eigentlich besser wusste.
    »Lin! Lin!«, hörte ich plötzlich meinen Nachbarn Jeetendra rufen. Seine Stimme überschlug sich vor Angst. Als wir uns umdrehten, sahen wir ihn über die Felsen zu uns kraxeln. »Lin! Meine Frau! Meine Radha! Sie ist furchtbar krank!«
    »Was hat sie denn? Was ist los?«
    »Sie hat schlimmen Durchfall. Sie glüht vor Fieber. Und sie bricht«, schnaufte Jeetendra. »Sie sieht schlecht aus. Sehr schlecht.«
    »Gehen wir«, murmelte ich, sprang auf und hüpfte von Stein zu Stein, bis ich den unebenen Weg zum Slum erreichte.
    Radha lag auf einer dünnen Decke in ihrer Hütte und krümmte sich vor Schmerzen. Ihre Haare waren so nass und verschwitzt wie ihr Sari. In der Hütte stank es fürchterlich. Chandrika, Jeetendras Mutter, versuchte zwar, Radha sauber zu halten, doch diese war durch das Fieber bewusstlos und inkontinent. Vor unseren Augen erbrach sie sich wieder heftig, was einen neuerlichen Ausfluss von Durchfall provozierte.
    »Wann hat das angefangen?«
    »Vor zwei Tagen«, erwiderte Jeetendra, dessen Mundwinkel sich vor Verzweiflung nach unten bogen.
    »Vor zwei Tagen ?«
    »Du warst irgendwo unterwegs, mit Touristen, noch sehr spät. Und dann warst du bei Qasim Ali, bis gestern Abend. Und heute warst du auch weg, schon sehr früh. Du warst einfach nie da. Zuerst hab ich gedacht, es wäre normaler dünner Durchfall. Aber sie ist sehr krank, Linbaba. Ich habe schon dreimal versucht, sie ins Krankenhaus zu bringen, aber die nehmen sie nicht auf.«
    »Sie muss ins Krankenhaus, Jeetu«, sagte ich entschieden. »Sie ist schwer krank.«
    »Was soll ich nur machen, Linbaba? Was soll ich nur machen? Die nehmen sie nicht auf. Es sind schon zu viele Leute im Krankenhaus. Zu viele. Ich habe heute sechs Stunden gewartet – sechs Stunden! Draußen, mit all den anderen Kranken. Zum Schluss hat sie mich angefleht, dass ich sie wieder nach Hause bringen soll. Sie hat sich so schrecklich geschämt. Wir sind gerade erst zurückgekommen. Ich habe mich gleich auf die Suche nach dir gemacht und gerufen. Ich mache mir schreckliche Sorgen, Linbaba.«
    Ich sagte ihm, er solle das Wasser in seiner Matka wegschütten, das Gefäß auswaschen und frisches Wasser holen. Chandrika wies ich an, einen Teil des frischen Wassers zehn Minuten lang zu kochen und Radha davon zu trinken zu geben, sobald es abgekühlt war. Jeetendra und Johnny begleiteten mich zu meiner Hütte, wo ich Glukosetabletten und eine Paracetamol-Codein-Mischung heraussuchte. Ich hoffte, damit Radhas Schmerzen lindern und ihr Fieber senken zu können. Jeetendra wollte gerade mit den Medikamenten losgehen, da kam Prabaker hereingestürzt. Er sah verzweifelt aus und umklammerte panisch meinen Arm.
    »Lin! Lin! Parvati! Ist sie sehr schlimm viel krank! Sehr, sehr schlimm und viel, viel krank! Bitte, kommst du schnell!«
    Das Mädchen wand sich unter Schmerzen, die hauptsächlich in der Magengegend zu sitzen schienen. Im einen Moment hielt sie sich den Bauch und krümmte sich, im nächsten warf sie Arme und Beine von sich, weil ein neuer Krampf aus der anderen Stoßrichtung ihren Rücken wölbte. Sie hatte hohes Fieber, und ihre Haut war glitschig vor Schweiß. Der Gestank von Durchfall und Erbrochenem lag so penetrant über dem Gastraum des Chai-Shops, dass ihre Eltern und ihre Schwester sich Tücher vor Mund und Nase hielten. Parvatis Eltern, Kumar und Nandita Patak, bemühten sich tapfer, die Ruhe zu bewahren, doch auf ihren Gesichtern zeichneten sich Hilflosigkeit und Verzweiflung ab. Wie verzweifelt die beiden tatsächlich waren, zeigte sich darin, dass sie mir entgegen allen Regeln der Sittsamkeit

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