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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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sodass jeder knöcheltief durch das Antiseptikum waten musste. An ausgewiesenen Orten wollten wir Plastikbehälter aufstellen, in denen der Abfall ordentlich entsorgt werden konnte. Außerdem sollte jeder Haushalt antiseptische Seife erhalten. In den Chai-Shops und Restaurants sollten Suppenküchen eingerichtet werden, die gekochtes Essen anboten und mit sterilisiertem Geschirr arbeiteten. Wir stellten ein Team zusammen, das die Toten aus den Hütten holen und auf Rollwägen zum Krankenhaus schaffen sollte. Ich erklärte mich bereit, dafür zu sorgen, dass das ORS auch eingenommen wurde, und bei Bedarf selbst eine Zucker-Salz-Lösung herzustellen, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten.
    Unser Vorhaben war gewaltig und die Verpflichtungen, die wir eingingen, verantwortungsvoll, aber wir alle nahmen sie auf uns, ohne zu zögern. Es ist ein typisches Wesensmerkmal des Menschen, dass seine besten Eigenschaften vor allem in Krisenzeiten zutage treten; sobald er in Wohlstand und Frieden lebt, werden sie von anderem überlagert. Die Widrigkeiten des Lebens formen unsere Tugenden. Ich hatte jedoch noch einen anderen Grund, meine neuen Verpflichtungen dankbar anzunehmen, einen Grund, der nichts mit Tugendhaftigkeit zu tun hatte: Ich schämte mich. Meine Nachbarin Radha war vor ihrem Tod zwei Tage lang schwer krank gewesen, und ich hatte nichts davon mitbekommen. Ich konnte nicht anders, aber ich hatte das Gefühl, dass mein Stolz und mein Hochmut irgendwie an der Krankheit schuld waren, dass meine kleine Praxis auf Überheblichkeit gründete – meiner Überheblichkeit – und dass die Krankheitserreger sich im Sudel dieses Hochmuts hatten vermehren können. Andererseits war mir wohl bewusst, dass die Epidemie nicht ausgebrochen war, weil ich etwas getan oder unterlassen hatte. Und ich wusste, dass die Krankheit den Slum unweigerlich früher oder später heimgesucht hätte. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass meine Selbstgefälligkeit zu der Katastrophe beigetragen hatte.
    Es war erst eine Woche her, dass ich gefeiert, getanzt und getrunken hatte, weil an diesem Tag niemand in meine Praxis gekommen war. Kein einziger Mann, keine Frau, kein Kind von all den Tausenden Einwohnern im Slum hatte meine Hilfe gebraucht. Die Warteschlange vor meiner Praxis, die vor neun Monaten noch aus ein paar Hundert Menschen bestanden hatte, war nach und nach zusammengeschrumpft, bis niemand mehr übrig war. Ich hatte mit Prabaker gefeiert, als hätte ich den ganzen Slum von seinen Leiden und Gebrechen geheilt. Als ich jetzt durch die regennassen Gassen zu den Dutzenden von Kranken hastete, kam mir diese Feier dumm und eitel vor. Schuldgefühle mischten sich in meine Scham. Während der zwei Tage, als meine Nachbarin Radha im Sterben lag, hatte ich mich bei Touristen eingeschmeichelt und es mir in deren Fünf-Sterne-Hotels gut gehen lassen. Während Radha sich auf dem feuchten Erdboden gekrümmt und hin- und hergeworfen hatte, hatte ich zum Hörer gegriffen und beim Zimmerservice noch mehr Eiscreme und Crêpes bestellt.
    Ich hetzte zu meiner Praxis zurück. Sie war leer. Prabaker kümmerte sich um Parvati. Johnny Cigar kam seiner neuen Aufgabe nach, die Toten ausfindig zu machen und wegzuschaffen. Jeetendra, der vor unseren Hütten auf dem Boden hockte, das Gesicht in den Händen vergraben, war gerade dabei, im Treibsand seines Kummers zu versinken. Ich trug ihm auf, mehrere größere Besorgungen für mich zu machen und in allen Apotheken in der Gegend nach ORS zu fragen. Voller Sorge um ihn und seinen kleinen Sohn Satish, der ebenfalls krank war, sah ich ihm nach, während er zur Straße schlurfte, und erspähte in der Ferne eine Frau, die auf mich zukam. Und noch ehe ich sie genau erkennen konnte, sagte mir mein Herz, dass es Karla war.
    Sie trug einen Salwar Kameez – nach dem Sari das schmeichelndste Kleidungsstück der Welt – in zwei unterschiedlichen Grüntönen; die grünen Pumphosen leuchteten heller als das lange Oberteil. Auf ihrem Rücken flatterten die Enden eines langen gelben Schals. Ihr schwarzes Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, und diese Frisur betonte ihre großen grünen Augen – das Grün von Lagunen, in denen träge Wellen auf den goldenen Sand schwappen –, ihre schwarzen Brauen, ihren vollendet schönen Mund. Ihre Lippen waren wie die sanften Hügel von Wüstendünen im Abendlicht; wie schmelzende Wellenkämme in der Gischt; wie die geschwungenen Flügel von Vögel beim werbenden

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