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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Tanz. Und ihre Bewegungen, als sie auf mich zukam, glichen dem stürmischen Wind in einem Hain junger Weiden.
    »Was machst du denn hier?«
    »Wie ich sehe, trägt dein Benimmunterricht erste Früchte«, sagte sie mit breitem amerikanischem Akzent, zog eine Augenbraue hoch und lächelte ironisch.
    »Es ist riskant, hierherzukommen«, sagte ich ungehalten.
    »Ich weiß. Didier ist einem deiner Freunde von hier über den Weg gelaufen. Er hat es mir erzählt.«
    »Warum bist du dann hier?«
    »Um dir zu helfen.«
    »Wobei?«, fragte ich. Ich war außer mir vor Angst um sie.
    »Bei … na, bei allem. Bei allem, was du hier tust. Anderen Menschen helfen. Das machst du doch, oder?«
    »Du musst sofort wieder gehen. Du kannst auf keinen Fall hierbleiben. Es ist zu gefährlich. Die Leute haut es reihenweise um. Und ich habe keine Ahnung, wie schlimm es noch wird.«
    »Ich bleibe«, sagte sie nur ruhig und starrte mich entschlossen an. Die großen grünen Augen funkelten, und ich fand sie schöner denn je. »Du bist mir wichtig, und ich bleibe bei dir. Also, was soll ich machen?«
    »Das ist Blödsinn!«, stöhnte ich und strich mir entnervt durch die Haare. »Das ist einfach nur dumm!«
    »Hör mal zu«, sagte sie und verblüffte mich mit einem breiten Lächeln, »meinst du vielleicht, du bist der Einzige, der hier den großen Retter spielen will? So, und nun sag mir mal in aller Ruhe, was ich tun soll.«
    Ich brauchte tatsächlich Hilfe – nicht nur bei der körperlichen Arbeit, der Krankenversorgung, sondern auch weil meine Zweifel, meine Angst und meine Scham mir bis zum Hals standen. Ironischerweise schätzen wir den Mut ja deshalb so hoch, weil es uns leichter fällt, für jemand anderen Mut an den Tag zu legen als für uns selbst. Außerdem liebte ich Karla. Und so sagte ich zwar mit Worten, sie solle sich in Sicherheit begeben, aber meine Augen, die sich mit meinem verlangenden Herz verschworen hatten, sagten ihr, sie solle bleiben.
    »Na ja, es gibt schon einiges zu tun. Aber sei vorsichtig! Und beim ersten Anzeichen, dass … dass es dir nicht gut geht, nimmst du sofort ein Taxi und fährst zu meinem Freund Hamid. Er ist Arzt. Abgemacht?«
    Sie legte ihre lange schlanke Hand in meine. Ihr Händedruck war fest und selbstbewusst.
    »Abgemacht«, sagte sie. »Wo fangen wir an?«
    Wir begannen mit einem Rundgang durch den Slum, besuchten die Kranken und verteilten Päckchen mit der Zucker-Salz-Lösung. Inzwischen zählten wir über hundert Cholera-Infizierte, von denen die Hälfte bereits schwer krank war. Obwohl wir uns bei jedem Kranken nur ein paar Minuten aufhielten, waren wir über zwanzig Stunden unterwegs. Wir waren ständig in Bewegung und ernährten uns nur von Suppe und stark gesüßtem Tee aus sterilen Tassen. Erst am Abend des zweiten Tages nahmen wir eine richtige Mahlzeit im Sitzen zu uns. Wir waren vollkommen erschöpft, doch der Hunger trieb uns an, und so kauten wir die heißen Rotis und das Gemüse. Danach begaben wir uns, einigermaßen gestärkt, auf einen zweiten Rundgang zu den Schwerkranken.
    Es war schmutzige Arbeit. Das Wort »Cholera« kommt aus dem Griechischen: kholera bedeutet Durchfall. Der Cholera-Durchfall stinkt so übel, dass man sich nicht an ihn gewöhnen kann. Sobald wir eine Hütte zu einem Krankenbesuch betraten, mussten wir gegen den Brechreiz ankämpfen. Manchmal gelang uns das nicht, und wir erbrachen uns. Und wenn das einmal passiert war, ließ sich der Brechreiz danach umso schwerer unterdrücken.
    Karla war freundlich und sanft, besonders mit den Kindern, und den Familien flößte sie Zuversicht ein. Trotz des Gestanks und der anstrengenden Arbeit in den dunklen, feuchten Bruchbuden, wo wir Kranke mühsam hochhoben, säuberten und trösteten, bewahrte sie ihren Humor. Das gelang ihr angesichts von Krankheit und Tod und der Angst, dass auch wir uns infizieren und sterben würden, als die Epidemie sich weiter auszubreiten schien. Vierzig schlaflose Stunden hindurch lächelte sie jedes Mal, wenn ich meine sehnsüchtigen Augen auf sie richtete. Ich war in sie verliebt, und ich hätte sie auch weitergeliebt, wenn sie faul, feige, geizig oder übellaunig gewesen wäre. Doch sie war tapfer, mitfühlend und großzügig. Sie arbeitete hart und war mir eine gute Freundin. Und irgendwie fand ich in diesen Stunden der Angst, des Leids und des Todes noch mehr Gründe und Formen für meine Zuneigung zu dieser Frau, die ich bereits von ganzem Herzen liebte.
    In der zweiten Nacht bestand ich

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