Shantaram
wert ist. Ich weiß, dass Sie bestürzt sind, und Hamid hat mir gesagt, dass Sie hier gute Arbeit leisten, aber ich bin tagtäglich mit dieser Situation konfrontiert, überall im ganzen Staat. Es gibt hundert Millionen Menschen in Maharashtra, und alle sind uns wichtig. Wir tun unser Bestes, das kann ich Ihnen versichern.«
»Das tun Sie sicher«, erwiderte ich seufzend und fasste ihn am Arm. »Tut mir leid. Ich wollte das nicht an Ihnen auslassen. Ich bin nur … mich überfordert das einfach und … wahrscheinlich habe ich auch ziemliche Angst.«
»Warum bleiben Sie dann hier, wo Sie doch gehen könnten?«
Unter den gegebenen Umständen kam die Frage unerwartet und klang beinahe unhöflich.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht … Ich liebe … ich liebe diese Stadt. Warum bleiben Sie denn?«
Er studierte noch einen Moment lang mein Gesicht, dann wich seine angespannte Miene wieder einem sanften Lächeln.
»Was können wir denn an Hilfe erwarten von Ihnen?« fragte Dr. Hamid.
»Leider nicht viel.« Jyoti bemerkte die Angst in meinen Augen und seufzte tief vor Erschöpfung. »Ich werde dafür sorgen, dass ein paar ausgebildete Freiwillige zu Ihrer Unterstützung kommen. Ich wünschte, ich könnte mehr tun. Aber wissen Sie, ich bin mir sicher, dass Sie das hier in den Griff kriegen, wirklich – wahrscheinlich viel besser, als Sie es sich im Moment vorstellen können. Immerhin haben Sie bereits einen guten Anfang gemacht. Wo haben Sie das ORS her?«
»Von mir«, sagte Hamid rasch, denn die Zucker-Salz-Lösungen gegen Flüssigkeitsverlust hatten wir unter der Hand von Khaderbhais Leprakranken bekommen.
»Als ich ihn informiert habe, dass wir hier offenbar die Cholera haben, hat er mir ORS mitgebracht und auch erklärt, wie man es einsetzt«, fügte ich hinzu. »Aber es ist nicht leicht. Manche der Leute sind zu krank, um es bei sich zu behalten.«
Die orale Rehydrationstherapie mit Zucker-Salz-Lösungen geht auf Jon Rohde zurück, einen Wissenschaftler, der in Bangladesh Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre mit einheimischen und UNICEF-Ärzten zusammenarbeitete. Die Lösung, die er entwickelte, enthielt destilliertes Wasser, Zucker, normales Salz und andere Mineralstoffe in einem sorgfältig austarierten Mischungsverhältnis. Rohde wusste, dass die Todesfälle bei Cholera nicht auf das Virus selbst, sondern auf die Austrocknung des Körpers zurückzuführen sind. Die Kranken kacken und kotzen sich zu Tode – das ist die grausige Tatsache. Er fand heraus, dass eine Lösung aus Wasser, Salz und Zucker die Infizierten am Leben hält, bis der Körper das Virus in den Griff bekommen hat. Auf Dr. Hamids Bitte hin hatten mir Ranjits Leprakranke mehrere Kartons mit ORS gebracht. Ich hatte keine Ahnung, mit wie vielen Kranken wir noch rechnen mussten oder wie viel Medizin wir insgesamt brauchen würden.
»Wir können Ihnen eine weitere Lieferung ORS zukommen lassen«, sagte Sandib Jyoti. »Wir bringen sie so schnell wie möglich auf den Weg. Die Stadt ist an der Grenze ihrer Möglichkeiten, aber ich sorge dafür, dass ein Team von freiwilligen Helfern zu Ihnen stößt, sobald das irgendwie machbar ist. Sie haben besondere Priorität, versprochen. Und: Viel Glück.«
Wir sahen ihm düster nach, als er mit seinem Assistenten den Slum verließ. Die Angst saß uns allen im Nacken.
Qasim Ali Hussein übernahm die Führung. Sein Haus erklärte er zur Kommandozentrale, und wir beriefen gleich ein Treffen ein. Als wir vollzählig waren, hatten sich ungefähr zwanzig Männer und Frauen versammelt, um einen Schlachtplan zu entwerfen. Der Cholera-Erreger, Vibrio Cholerae, wird in erster Linie über verunreinigtes Trinkwasser übertragen. Sobald das Bakterium im Dünndarm angelangt ist, vermehrt es sich massiv und verursacht Fieber, Durchfall und Erbrechen, was erst zur Austrocknung des Körpers und letztlich zum Tod führt. Wir beschlossen, das Wasser im Slum zu reinigen – zuerst das in den Tanks, dann das in Eimern und Gefäßen in sämtlichen siebentausend Hütten. Qasim Ali Hussein zog ein Bündel Geldscheine hervor, dick wie ein Männerknie, und gab es Johnny Cigar, damit er Wasserreinigungstabletten und weitere Medikamente besorgen konnte.
Die durch die starken Regenfälle entstandenen Pfützen und Rinnsale im Slum waren gleichfalls Brutstätten für das Bakterium. Deshalb beschlossen wir, an strategischen Stellen in den Gassen flache Gräben auszuheben, die wir mit Desinfektionsmittel füllen wollten,
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