Shantaram
Karla war allein.
Der Bruder ihrer Mutter hatte sich in Amerika niedergelassen, in San Francisco. Das verwaiste Mädchen war erst zehn, als es neben diesem Fremden am Grab seiner Mutter stand und ihn dann auf seiner Rückreise begleitete, um Teil seiner Familie zu werden. Mario Pacelli war ein Bär von einem Mann mit einem großen Herz. Er behandelte sie mit liebevoller Güte und aufrichtiger Achtung, so wie seine leiblichen Kinder. Er sagte ihr oft, dass er sie lieb habe und hoffe, dass sie ihn eines Tages auch lieben lernen und ihm einen Teil der Liebe schenken würde, die sie für ihre toten Eltern so fest in ihrem Herzen verschlossen habe.
Dieser Liebe blieb jedoch kaum Zeit zu wachsen. Drei Jahre nachdem Karla nach Amerika gekommen war, starb ihr Onkel Mario bei einem Kletterunfall. Nun übernahm Marios Witwe Penelope die Kontrolle über ihr Leben. Tante Penny war eifersüchtig auf die Schönheit des jungen Mädchens und auf ihre streitbare, imposante Intelligenz – Eigenschaften, die sie bei ihren eigenen drei Kindern vermisste. Je herausragender sich Karla entwickelte, desto mehr hasste ihre Tante sie dafür. Wenn wir aus den falschen Gründen hassen, hatte Didier einmal gesagt, ist uns keine Gemeinheit zu bösartig oder zu grausam. Tante Penny benachteiligte Karla, bestrafte sie willkürlich, setzte sie ständig herab und tadelte sie in einem fort. Nur sie hinauszuwerfen wagte sie nicht.
Da Karla gezwungen war, das Geld für alles, was sie brauchte, selbst zu verdienen, arbeitete sie abends nach der Schule in einem Restaurant und am Wochenende als Babysitterin. Eines heißen Sommerabends kam einer der Väter, für die sie arbeitete, zu früh nach Hause, allein. Er war auf einer Party gewesen und hatte getrunken. Sie mochte ihn eigentlich, er war ein gutaussehender Mann, der von Zeit zu Zeit sogar auch in ihren heimlichen Fantasien aufgetaucht war. Als er an jenem schwülen Sommerabend durchs Zimmer kam und sich neben sie stellte, fühlte sie sich durch seine Beachtung zunächst geschmeichelt, trotz seiner Alkoholfahne und dem glasigen, starren Blick. Er berührte ihre Schulter, und sie lächelte. Dieses Lächeln sollte für lange Zeit ihr letztes gewesen sein.
Niemand außer Karla nannte es Vergewaltigung. Er behauptete später, Karla habe ihn provoziert, und ihre Tante stellte sich auf seine Seite. Die fünfzehnjährige Waise aus der Schweiz verließ daraufhin das Haus ihrer Tante. Für immer. Sie ging nach Los Angeles, wo sie Arbeit fand und mit einem anderen Mädchen zusammenzog. Sie nahm ihr Leben in die Hand. Doch nach der Vergewaltigung war sie außerstande, Liebe mit Vertrauen zu verbinden. Die anderen Spielarten der Liebe konnte sie noch leben – sie konnte Freundschaften eingehen, Anteil nehmen, Sex haben –, doch die Liebe, die an die Beständigkeit eines anderen Herzens glaubt und auf sie vertraut, die romantische Liebe, war Karla verloren gegangen.
Sie arbeitete, sparte, besuchte die Abendschule. Ihr großer Traum war, irgendwo an einer Universität aufgenommen zu werden und Englisch und Deutsch zu studieren. Doch in ihrem jungen Leben war zu viel zerstört worden, und zu viele geliebte Menschen waren gestorben. Sie brachte keinen Kurs zu Ende und behielt keinen Arbeitsplatz lange. Sie ließ sich treiben und begann sich schließlich selbst zu unterrichten, indem sie alles las, was ihr Kraft oder Hoffnung gab.
»Und dann?«
»Und dann«, sagte sie langsam, »habe ich mich eines Tages in einem Flugzeug nach Singapur wiedergefunden, habe einen Geschäftsmann kennen gelernt, aus Indien, und mein Leben hat sich … na ja … für immer verändert.«
Sie atmete aus und seufzte. Ob sie verzweifelt oder einfach nur erschöpft war, konnte ich nicht genau sagen.
»Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast.«
»Dass ich dir was erzählt habe?«, fragte sie scharf und sah mich finster an.
»Na ja … dein Leben«, antwortete ich.
Sie entspannte sich wieder.
»Nicht der Rede wert«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
»Nein, ich hab das ernst gemeint. Ich bin froh und dankbar, dass du mir so sehr vertraust, dass du mir von … von dir erzählt hast.«
»Ich habe es auch ernst gemeint«, sagte sie, immer noch lächelnd. »Behalte das für dich, ja? Und rede mit niemandem drüber, okay?«
»Okay.«
Wir schwiegen einen Moment. Irgendwo in der Nähe weinte ein Baby, und ich hörte, wie die Mutter es mit einer langen Silbenfolge beruhigte, die liebevoll und ein wenig entnervt zugleich
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