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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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schließlich gegen drei Uhr morgens darauf, dass sie ein wenig schlief, dass wir beide uns schlafen legten, ehe die Erschöpfung uns völlig übermannte. Wir gingen durch die dunklen, menschenleeren Gassen. Es war eine mondlose Nacht, und die Sterne funkelten gleißend hell am dunklen Himmel. An einer für den Slum ungewöhnlich breiten Kreuzung, an der drei Gassen aufeinanderstießen, blieb ich stehen und bedeutete Karla mit erhobener Hand, dass sie still sein sollte. Wir nahmen ein schwaches Kratzen wahr, ein Schaben und Scharren, das wie raschelnder Taft oder das Knistern von Zellophanfolie klang. In der Finsternis konnte ich nicht erkennen, woher das Geräusch kam, doch ich wusste, dass es sich näherte. Ich griff hinter mich, zog Karla dicht an meinen Rücken und blickte nach links und rechts, um das Geräusch zu orten. Und dann kamen sie – die Ratten.
    »Nicht bewegen!«, warnte ich mit einem heiseren Flüstern und zog sie so fest wie möglich an meinen Rücken. »Rühr dich nicht! Wenn du dich nicht bewegst, halten sie dich für einen toten Gegenstand. Wenn du auch nur den kleinsten Mucks machst, beißen sie!«
    Die Ratten kamen zu Hunderten, dann zu Tausenden: rennende, quiekende Tiere quollen aus den Gassen wie schwarze Wellen, brandeten gegen unsere Beine wie ein wirbelnder, reißender Fluss. Sie waren riesig, größer als Katzen, fett und glitschig, und sie rasten so schnell durch die Gassen, dass teilweise mehrere Tiere übereinander liefen. Zuerst in Höhe der Knöchel und des Schienbeins drängten sie sich an uns vorbei, dann reichten sie uns bis zum Knie. Mit voller Wucht prallten sie gegen meine Beine, stürmten auf ihrem allnächtlichen Zug von den nahen Märkten durch den Slum zu den Abwasserleitungen der teuren Apartmenthäuser. Zu Tausenden. Es kam mir vor, als strömten diese schwarzen Wellen schnappender Ratten geschlagene zehn Minuten an uns vorbei, auch wenn es nicht so lange gedauert haben kann. Schließlich waren sie weg. Die Gassen waren von Abfall und Unrat befreit, und eine bedrückende Stille lag in der Luft.
    »Was … was zum Teufel war denn das?«, fragte Karla verstört.
    »Diese verdammten Viecher kommen jede Nacht etwa um diese Zeit hier durch. Keiner stört sich daran, denn sie halten die Gassen sauber und lassen einen in Ruhe, solange man in seiner Hütte ist oder draußen auf dem Boden schläft. Aber wenn du ihnen im Weg stehst und in Panik gerätst, laufen sie über dich drüber und lassen dich so abgenagt zurück wie die Gassen.«
    »Ich muss schon sagen, Lin«, äußerte Karla mit fester Stimme, obwohl ihr die Angst noch anzusehen war, »du hast einer Frau echt was zu bieten!«
    Schwach vor Erschöpfung und Erleichterung, weil wir ohne schlimme Verletzungen davongekommen waren, hielten wir uns aneinander fest und stolperten zu meiner Hütte zurück. Ich breitete eine Decke auf dem Erdboden aus, und wir legten uns hin, an einen Stapel Decken gelehnt. Ich nahm Karla in die Arme. Ein leichter Regenschauer prasselte auf die Segeltuchplane über der Hütte. Irgendwo stieß jemand im Schlaf einen erschrockenen Schrei aus, und der verlorene Laut schwang sich von Traum zu Traum, bis eine Horde wilder Hunde, die am Rand des Slums umherstreunte, mit Geheul darauf antwortete. Unsere Erschöpfung und die begehrliche Spannung in unseren Körpern hielten uns wach, und Karla begann mir ihre schmerzhafte Geschichte zu erzählen, Stück um Stück.
    Sie kam in Basel zur Welt, einziges Kind ihrer Eltern, eines Künstlerehepaars. Ihre Mutter, ein Koloratursopran, stammte aus der italienischen Schweiz, der Vater, ein Maler, aus Schweden. Karla Saaranens Erinnerungen an ihre frühe Kindheit waren die glücklichsten ihres Lebens. Das junge Künstlerpaar war beliebt, und in ihrem Haus trafen sich Dichter, Musiker, Schauspieler und andere Künstler der Weltstadt. Karla wuchs viersprachig auf. Sie verbrachte viel Zeit mit ihrer Mutter und lernte deren Lieblingsarien, und im Atelier des Vaters sah sie zu, wie er die leeren Leinwände mit Farben und Formen seiner Leidenschaft verzauberte.
    Und dann kam der Tag, an dem Ischa Saaranen von seiner Ausstellung in Deutschland nicht mehr zurückkehrte. Kurz vor Mitternacht teilte die Polizei Anna und Karla mit, dass sein Wagen in einem Schneesturm von der Straße abgekommen sei. Er war tot. Die Trauer zerstörte in nur einem Jahr zuerst Anna Saaranens Schönheit, dann ihre wunderbare Stimme und am Ende ihr Leben. Sie nahm eine Überdosis Schlaftabletten.

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