Shantaram
Mädchen vorher um Hilfe gefleht hatte, denn wir hatten ihnen ihre schöne Dröhnung vermasselt. Als ich die Zimmertür hinter mir zuzog, wusste ich, dass bald in dieser oder einer anderen Stadt ein anderer die Tür ein allerletztes Mal zuziehen würde. Jedes Mal, wenn ein Fixer in diesen Brunnen des ewigen Schlafes stürzt, fällt er ein Stück tiefer und es wird noch schwerer, ihn herauszuziehen.
Anand war mir etwas schuldig. Ich duschte und rasierte mich und nahm das frischgewaschene und gebügelte Hemd, das er mir schenkte, gerne an. Dann setzten wir uns in den Empfangsraum und tranken Chai. Je tiefer sie in unserer Schuld stehen, desto weniger mögen uns manche Menschen. Andere hingegen beginnen erst richtig, uns zu mögen, wenn sie uns etwas schulden. Anand hatte keine Probleme mit seiner Dankesschuld, und sein Handschlag war von der Sorte, die bei guten Freunden manchmal ein ganzes Gespräch ersetzt.
Als ich wieder auf die Straße trat, hielt ein Taxi neben mir am Straßenrand. Auf der Rückbank saß Ulla.
»Lin! Kannst du für einen Moment einsteigen?«
Ihre Stimme klang jämmerlich, und ihr hübsches, blasses Gesicht wirkte wie erstarrt vor Sorge und Angst.
Ich setzte mich zu ihr auf die Rückbank, und das Taxi fuhr langsam los. In dem Wagen roch es nach ihrem Parfum und den Beedies, die sie unentwegt rauchte.
»Seedha jao!«, wies sie den Fahrer an. Immer geradeaus! »Ich habe ein Problem, Lin«, sagte sie dann zu mir. »Ich brauche Hilfe.«
In dieser Nacht war ich offenbar auserkoren, der große Retter in der Not zu sein. Ich blickte in ihre großen blauen Augen und widerstand dem Impuls, einen Scherz zu machen oder mit ihr zu flirten. Sie hatte ganz offensichtlich Angst. Die Begegnung mit dem, was sie so erschreckt hatte, saß immer noch in ihren Augen. Sie schaute zwar mich an, aber eigentlich starrte sie immer noch auf ihre Angst.
»Ach, Mann, tut mir leid«, schluchzte sie unvermittelt, nahm sich dann aber zusammen. »Ich hab ja noch nicht mal hallo gesagt. Wie geht’s dir denn? Ich hab dich ewig nicht gesehen. Ist alles okay? Du siehst gut aus.«
Ihr rhythmischer deutscher Akzent gab ihren Worten etwas Hüpfendes, Melodiöses, das mir gefiel.
»Mir geht’s gut. Aber was hast du für ein Problem?«
»Ich brauche jemanden, der mich begleitet, der bei mir ist, heute Nacht um eins. Beim Leopold’s. Ich muss dahin, und ich … ich brauche dich dort. Geht das? Kannst du das einrichten?«
»Das Leopold’s ist um Mitternacht zu.«
»Ja«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. »Aber ich warte direkt davor in einem Taxi. Ich muss dort jemanden treffen, und ich will auf keinen Fall allein sein. Kannst du kommen?«
»Warum gerade ich? Was ist mit Modena? Oder Maurizio?«
»Ich vertraue dir, Lin. Es wird nicht lange dauern – dieses Treffen. Und ich bezahle dich auch dafür. Ich bitte dich nicht einfach so um einen Gefallen. Du kriegst fünfhundert Dollar, nur fürs Dasein. Also, kommst du?«
Ich vernahm eine warnende Stimme in meinem Innern – die immer dann zu uns spricht, wenn ein Unheil, das noch übler ist, als wir es uns vorstellen können, auf uns lauert und in Kürze zuschlagen wird. Das Schicksal hat seine eigene Art, uns in einem fairen Kampf fertigzumachen: Es lässt uns Warnungen zukommen, die wir nicht beachten. Natürlich würde ich ihr helfen. Ulla war schließlich Karlas Freundin, und ich war in Karla verliebt. Selbst wenn ich Ulla nicht gemocht hätte, um Karlas willen hätte ich ihr geholfen. Aber ich mochte sie so oder so. Sie war hübsch und so naiv und optimistisch, dass man sie unwillkürlich sympathisch fand, ohne sie zu bemitleiden. Ich lächelte wieder und bat den Taxifahrer anzuhalten.
»Klar, ich komme. Mach dir keine Gedanken.«
Sie beugte sich herüber und küsste mich auf die Wange. Als ich ausgestiegen war, legte sie die Hände auf die Fensterkante und beugte sich hinaus. Feine Regentropfen verfingen sich in ihren Wimpern, und sie blinzelte.
»Du kommst? Versprochen?«
»Um eins«, sagte ich bestimmt. »Vorm Leopold’s. Ich werde da sein.«
»Versprochen?«
»Ja.« Ich lachte. »Versprochen.«
Das Taxi fuhr los, und Ulla rief mit einer klagenden Dringlichkeit, die in der Stille der Nacht hart und fast hysterisch wirkte: »Lass mich nicht hängen, Lin!«
Ziellos schlenderte ich zu Fuß ins Zentrum von Colaba zurück und dachte über Ulla und die Geschäfte nach, die ihr Freund Modena zusammen mit Maurizio machte. Didier hatte mir erzählt, dass sie
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