Shantaram
Leopold’s. Und
ich hab noch genau fünf Minuten Zeit, um hinzukommen.«
»Jetzt? Du willst jetzt gehen?«
»Ich muss.«
»Das Leopold’s hat doch schon zu.« Sie setzte sich mit gerunzelter Stirn auf und lehnte sich an einen kleinen Kissenberg.
»Ich weiß«, murmelte ich, während ich meine Stiefel anzog und zuschnürte. Meine Sachen waren klatschnass, aber die Nacht war noch warm, beinahe schwül. Das Unwetter verzog sich allmählich, und der leichte Wind, der die stehende Luft in Bewegung versetzt hatte, legte sich wieder. Ich kniete mich neben das Bett, beugte mich vor und küsste die zarte Haut an ihrem Oberschenkel. »Ich muss gehen. Ich hab es versprochen.«
»Ist es so wichtig?«
Ich spürte einen Anflug von Zorn und runzelte die Stirn. Ich ärgerte mich, dass sie nachfragte, obwohl ich von einem Versprechen gesprochen hatte. Das hätte eigentlich genügen müssen. Doch im Licht dieser mondlosen Nacht sah sie hinreißend aus, und sie hatte jedes Recht, verärgert zu sein – im Gegensatz zu mir.
»Tut mir leid«, sagte ich leise und strich ihr durch das dichte schwarze Haar. Wie oft hatte ich mir das gewünscht, als wir uns gegenübergestanden hatten: den Arm ausstrecken und sie berühren.
»Geh nur«, sagte sie ruhig und beobachtete mich mit verengten Hexenaugen. »Geh.«
Ich rannte über den verlassenen Markt zur Arthur Road. Die Marktstände unter ihren weißen Segeltuchabdeckungen sahen aus wie verhüllte Tote im Kühlraum eines Leichenschauhauses. Das Echo meiner hastigen Schritte klang, als würde ich von Gespenstern begleitet. Ich überquerte die Arthur Road und bog in die Mereweather Road ein. Von keinem der zahllosen Menschen, die Tag für Tag auf dieser breiten, von Bäumen und Stadthäusern gesäumten Straße unterwegs waren, war etwas zu sehen oder zu hören.
An der ersten Kreuzung bog ich nach links ab, um den überschwemmten Straßen auszuweichen, und sah vor mir einen Polizisten auf einem Fahrrad. Ich rannte in der Mitte der Straße weiter und passierte eine dunkle Einfahrt, aus der in diesem Moment ein zweiter Polizist auf einem Fahrrad hervorkam. Als ich die Seitenstraße bis zur Mitte gegangen war, erschien am anderen Ende der erste Polizeijeep. Hinter mir hörte ich einen zweiten Jeep, und dann trafen die beiden Radfahrer zusammen. Der Jeep hielt neben mir an, und ich blieb stehen. Fünf Männer stiegen aus und umstellten mich. Ein paar Sekunden lang herrschte absolute Stille. Es war eine bedrohliche Stille, und sie schien den Polizisten zu gefallen, denn ihre Augen funkelten triumphierend im sanft herabfallenden Regen.
»Was soll das?«, fragte ich auf Marathi. »Was wollen Sie?«
»Steig ein«, knurrte der Chef des Trupps auf Englisch.
»Hören Sie, ich spreche Marathi, können wir vielleicht –«, setzte ich an, doch er schnitt mir mit einem rauen Lachen das Wort ab.
»Wir wissen, dass du Marathi sprichst, Dreckskerl«, sagte er auf Marathi. Die anderen Bullen lachten. »Wir wissen alles. Und jetzt steig in den verdammten Jeep, Wichser, sonst ziehen wir dir mit dem Lathi eins über, und glaub mir, dann wirst du einsteigen.«
Ich stieg in den überdachten Jeep, wo ich mich auf den Boden setzen musste und von sechs Männern festgehalten wurde.
Wir legten die kurze Strecke bis zur Polizeiwache von Colaba gegenüber vom Leopold’s zurück. Als wir in den Hof der Wache einbogen, sah ich, dass vor dem Leopold’s kein Wagen stand. Ulla war also nicht da. Hatte sie mich in eine Falle gelockt?, fragte ich mich, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los, schien sich wie ein Wurm durch mein Gehirn zu nagen.
Der Dienst habende Polizist war ein übergewichtiger Marathe, der sich wie viele seiner Kollegen in eine mindestens zwei Nummern zu kleine Uniform zwängen musste. Vielleicht war er deshalb so gemein, dachte ich bei mir, weil er sich so unwohl fühlte in seiner Haut.
Jedenfalls zeigten weder er noch die zehn anderen Polizisten, die mich umringten, auch nur die geringste Spur von Humor. Schweigend starrten sie mich finster an, und ich spürte den absurden Impuls, laut aufzulachen. Doch als sich der Dienst habende Beamte an seine Männer wandte, verging mir das Lachen.
»Nehmt euch diesen Wichser vor und verdrescht ihn ordentlich«, sagte er sachlich. Falls er wusste, dass ich Marathi sprach und ihn verstehen konnte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er sprach zu seinen
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