Shantaram
neueste Superhit aus einem aktuellen Bollywood-Film.
»Hey, yaar, ich liebe diesen Song!«, rief Vikram. »Mach mal lauter, Baba! Arre, so laut es geht!«
Der Saftmann drehte die Lautstärke folgsam bis zum Anschlag auf, und Vikram begann zu tanzen und mitzusingen. Erstaunlich anmutig und elegant wirbelte er unter der gestreiften Markise hervor und tanzte im Nieselregen. Es dauerte keine Minute, bis er mit seiner temperamentvollen Nummer andere junge Männer vom Gehweg herbeigelockt hatte, und bald tanzten sechs, sieben, acht Männer lachend im Regen, während wir anderen klatschten und johlten.
Vikram hüpfte auf mich zu, packte mich mit beiden Händen am Handgelenk und zog mich zu den anderen. Ich protestierte und versuchte ihn abzuschütteln, doch von der Straße kamen ihm viele Hände zu Hilfe, und so wurde ich in die Gruppe der Tänzer bugsiert. Und ich gab mich dem Land hin, wie ich es damals täglich tat und wie ich es noch heute tue, an jedem Tag meines Lebens, wo ich auch gerade bin auf der Welt. Ich tanzte, folgte Vikrams Schritten, und die Umstehenden feuerten uns an.
Nach ein paar Minuten war das Lied zu Ende, und als wir uns umdrehten, sahen wir Lettie unter der Markise stehen. Sie sah uns amüsiert zu, und Vikram lief zu ihr, um sie zu begrüßen. Nachdem ich den Regen abgeschüttelt hatte, gesellte ich mich zu ihnen.
»Sag nichts! Ich will es gar nicht wissen!«, kam sie Vikram zuvor, lächelnd, doch mit abwehrend erhobener Hand. »Was du hier unter deiner privaten Regendusche so treibst, ist ganz allein deine Sache. Hallo, Lin, mein Süßer. Wie geht’s denn so?«
»Prima, Lettie. Und dir? Ist es dir auch nass genug?«
»Euer Regenzauber war ein voller Erfolg, Jungs. Eigentlich sollte Karla ziemlich genau jetzt zu Vikram und mir stoßen. Wir wollen zu einem Jazzkonzert in Mahim. Aber sie sitzt im Taj fest. Sie hat gerade angerufen. Das gesamte Gateway ist überschwemmt. Die Limousinen und Taxis schwimmen herum wie Papierschiffchen, und die Hotelgäste kommen nicht weg. Sie sitzen fest, und unsere Karla mit ihnen.«
Ich blickte mich rasch um und sah, dass Prabakers Cousin Shantu immer noch in seinem Taxi saß, das ich vorhin in der Schlange vor den Restaurants entdeckt hatte. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Halb vier. Ich wusste, dass die Fischer um diese Zeit mit ihrem Fang zurückkehrten, und wandte mich wieder Vikram und Lettie zu.
»Tut mir leid, Leute, ich muss weg.« Ich drückte Vikram sein Hemd in die Hand. »Danke für das Hemd, Mann. Ich nehm es nächstes Mal mit. Bewahr es für mich auf, ja?«
Ich sprang in Shantus Taxi und stellte das Taxameter durch das Passagierfenster auf »Ein«. Lettie und Vikram winkten, als wir an ihnen vorbeisausten. Auf dem Weg zu der Siedlung neben unserem Slum erklärte ich Shantu, was ich im Schilde führte. Ein Lächeln zerknitterte sein wettergegerbtes dunkles Gesicht, und er schüttelte verwundert den Kopf, doch er jagte das zerbeulte Taxi noch etwas schneller über die regennasse Straße.
In der Fischersiedlung bat ich Vinod, einen von Prabakers engsten Freunden, der schon mehrmals bei mir in der Praxis gewesen war, um seine Unterstützung. Er wählte für unser Vorhaben einen seiner kürzeren Stechkähne. Wir hievten das leichte, flache Boot auf das Dach des Taxis, und ich sicherte es mit einer Hand. Dann brausten wir los in Richtung Taj Hotel, Höhe Radio Club Hotel.
Shantu fuhr täglich sechzehn Stunden Taxi, sechs Tage die Woche. Er war fest entschlossen, seinem Sohn und seinen beiden Töchtern ein besseres Leben zu bieten, als er es hatte. Deshalb sparte er für ihre Ausbildung und für die beträchtliche Mitgift, die erforderlich sein würde, wenn seine Töchter einmal eine gute Partie machen sollten. Er war ständig erschöpft, und keine schlimme oder weniger schlimme Strapaze, die mit der Armut einhergeht, blieb ihm erspart. Vinod wiederum bestritt den Lebensunterhalt für seine Eltern, seine Frau und seine fünf Kinder mit der Kraft seiner dünnen, aber starken Arme, die unermüdlich Fische aus dem Meer zogen. Mit zwanzig anderen armen Fischern hatte er aus eigenem Antrieb eine Genossenschaft gegründet und durch die Bündelung von Kräften und Mitteln ein Mindestmaß an Sicherheit erlangt. Und doch reichte sein Einkommen nur selten für den Luxus neuer Sandalen, Schulbücher oder einer dritten Mahlzeit am Tag. Trotzdem wollten weder Shantu noch Vinod Geld von mir annehmen, als ich ihnen sagte, was ich vorhatte. Ich drängte es
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