Shantaram
dann mit einem Rasiermesser den Schädel.
Während wir warteten, hörten wir Schreie von dem eingezäunten Gelände neben uns. Mahesh stieß mich an und wies mit dem Kopf in die Richtung. Zehn Gefangenenaufseher schleiften einen Mann auf das leere Grundstück hinter dem Maschendrahtzaun. An seinen Handgelenken und seiner Taille waren Seile befestigt. Weitere Seile liefen durch die Schnallen und Ringe eines dicken Lederhalsbandes, das man ihm umgelegt hatte. Zwei Gruppen von Aufsehern spielten mit den Seilen an seinen Handgelenken Tauziehen. Der Mann war sehr groß und kräftig. Sein Hals war dick wie ein Kanonenrohr, und an seiner mächtigen Brust und seinem Rücken wölbten sich Muskeln. Er war Afrikaner. Ich erkannte ihn. Es war Hassan Obikwas Fahrer, Rahim, der Mann, dem ich geholfen hatte, dem Mob am Regal Circle zu entkommen.
Wir sahen schweigend und angespannt zu. Nur unser hastiges Atmen durchbrach die Stille. Sie bugsierten Rahim in die Mitte des Grundstücks zu einem Steinblock, der etwa einen Meter hoch und einen Meter breit war. Rahim wehrte und widersetzte sich, doch es war sinnlos. Weitere Aufseher kamen hinzu und brachten noch mehr Seile. Rahims Beine gaben unter ihm nach, und drei Männer zerrten mit aller Macht an den Seilen an seinen Handgelenken. Sie zogen ihm die Arme so brutal vom Körper weg, dass ich dachte, sie würden gleich aus den Gelenkpfannen gerissen. Seine Beine waren in einem unnatürlichen Winkel gespreizt, und er wurde mithilfe der Seile an seinem Lederhalsband zu dem Steinblock gezerrt. Dort zogen die Aufseher seinen linken Arm so zurecht, dass Hand und Unterarm auf dem Block zu liegen kamen. Rahim selbst lag neben dem Block, sein anderer schmerzhaft gedehnter Arm wurde von einer weiteren Gruppe Aufseher festgehalten. Nun stieg einer der Aufseher auf den Block und sprang mit beiden Füßen auf Rahims Arm, sodass dieser mit einem entsetzlichen Krachen von Knorpel und Knochen nach hinten gedrückt wurde und brach.
Rahim konnte nicht schreien, weil das Halsband um seine Kehle zu eng war, doch sein Mund öffnete und schloss sich zu dem Schrei, den wir innerlich für ihn ausstießen. Seine Beine begannen zu krampfen und zucken. Ein heftiges Zittern durchlief seinen ganzen Körper und endete in einem heftigen Kopfschütteln, das komisch gewirkt hätte, wäre es nicht so furchterregend gewesen. Dann zerrten die Aufseher an ihm, bis sein rechter Arm auf dem Block zu liegen kam. Derselbe Mann stieg wieder auf den Stein, unterhielt sich dabei mit einem seiner Freunde und zog eines der Seile straff. Nach einer kurzen Pause schneuzte er sich mit den Fingern, kratzte sich und sprang dann auf den rechten Arm, der ebenfalls nach hinten gedrückt wurde und brach. Rahim wurde ohnmächtig. Die Gefangenenaufseher schlangen ihre Seile um seine Fußgelenke und schleiften ihn vom Grundstück. Seine Arme schlackerten hinter seinem Körper her, so schlaff und leblos wie mit Sand gefüllte schwarze Strümpfe.
»Siehst du?«, flüsterte Mahesh.
»Was war denn das ?«
»Hat er geschlagen einen von die Aufseher«, antwortete Mahesh verängstigt. »Deshalb halte ich dich zurück. So was können sie tun, siehst du.«
Ein anderer Mann beugte sich zu uns herüber.
»Und ist hier nicht garantiert, dass Arzt kommt«, wisperte er hastig. »Vielleicht kommt Arzt, vielleicht auch nicht. Vielleicht lebt er, der schwarze Mann, vielleicht auch nicht. Bringt kein Glück, Aufseher zu schlagen, baba.«
Big Rahul kam auf uns zu, den Bambusstock über die Schulter gelegt. Er blieb neben mir stehen und ließ den Stock gemächlich auf meinen Rücken niedersausen. Sein Lachen, als er an der Warteschlange entlang davonschlenderte, war laut und brutal, zugleich aber auch falsch und schwach. Er konnte mich nicht täuschen. Ich hatte dieses Lachen schon früher gehört, in einem anderen Gefängnis, in einem anderen Teil der Welt. Ich kannte es nur zu gut. Grausamkeit ist eine Spielart der Feigheit. In Gesellschaft lachen Feiglinge grausam, wenn sie eigentlich weinen möchten, und sie fügen anderen Schmerzen zu, wenn sie eigentlich trauern wollen.
Als ich so in der Schlange hockte, bemerkte ich, dass im Haar des Mannes vor mir kleine Insekten herumkrabbelten: Läuse. Angewidert zuckte ich zusammen. Seitdem ich heute aufgewacht war, hatte es mich überall gejuckt. Bis zu diesem Moment hatte ich das auf die Bisse des Kadmal, die raue Decke, auf der ich gelegen hatte, und die vielen Wunden vom Spießrutenlaufen zurückgeführt.
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