Shantaram
nachmittags um halb fünf gab es eine weitere Portion von dieser Suppe, dazu ein Chapatti. Die Suppe bestand aus Schalen und abgeschnittenen Endstücken diverser Gemüse – mal Karottenschalen, mal Kürbisschalen, mal die Schalen von Roten Beten und so weiter. Der Gefängniskoch verarbeitete auch die Augen und Druckstellen von Kartoffeln, die harten Enden von Zucchini, die papierne Außenhaut der Zwiebeln und abgeschabte erdige Abfälle von Kohlrüben. Von dem eigentlichen Gemüse sahen wir nie etwas, das bekamen die Wärter und Gefangenenaufseher. In unserer Suppe trieben nur Schalen und holzige Enden in einer farblosen, wässrigen Flüssigkeit. Der große Kessel, den die Aufseher zu jeder Mahlzeit in unseren Hof rollten, enthielt hundertundfünfzig in der Küche portionierte Rationen. In unserem Schlafsaal waren wir jedoch hundertundachtzig. Um den Mangel auszugleichen, gossen die Aufseher zwei Eimer kaltes Wasser in den Kessel. Es war ein tägliches Ritual – sie zählten uns demonstrativ ab, schauten scheinbar bekümmert und mimten dann theatralisch ihren Geistesblitz: Sie kippten mit wildem Gelächter die beiden Eimer in den Kessel.
Um sechs Uhr zählten die Wärter noch einmal durch und schlossen uns dann in dem langen Schlafsaal ein. Dort durften wir uns noch zwei Stunden unterhalten und Charras rauchen, das die Aufseher verkauften. Jeder Insasse des Arthur-Road-Gefängnisses erhielt fünf Gutscheine pro Monat, die sogenannten Coupons. Wer an Geld herankam, konnte sie auch kaufen. Manche Männer hatten Bündel mit mehreren Hundert Coupons und benutzten sie, um Tee zu kaufen – für zwei Coupons bekam man eine Tasse heißen Tee –, oder Brot, Zucker, Marmelade, warmes Essen, Seife, Rasierzeug, Zigaretten oder Dienstleistungen zu erstehen; gegen Coupons wuschen auch andere Männer ihre Kleider oder erledigten andere Aufgaben für sie. Im Gefängnis waren die Coupons Schwarzmarktwährung. Für sechs Coupons bekam man ein goli, ein Klümpchen Charras, für fünfzig eine Penicillin-Injektion. Ein paar Dealer handelten auch mit Heroin, sechzig Coupons für einen Schuss, aber das versuchten die Aufseher mit allen Mitteln zu unterbinden. Die Heroinabhängigkeit war eine der wenigen Triebfedern, die stark genug waren, um einen Mann seine Angst vergessen zu lassen und die Autorität seiner Peiniger anzufechten. Die meisten Männer waren vernünftig genug, die fast grenzenlose Macht der Aufseher zu fürchten, und begnügten sich mit dem halb legalen Charras, sodass häufig der Duft von Haschisch durch den Saal zog.
Jeden Abend kamen die Männer in Gruppen zusammen und sangen. Zu zwölft oder mehr saßen sie im Kreis, trommelten auf ihren umgedrehten Aluminiumtellern wie auf Tablas und sangen Liebeslieder aus ihren Lieblingsfilmen. Sie sangen von gebrochenen Herzen und vom Schmerz des Verlusts. Besonders beliebte Lieder machten die Runde: Sie wurden in einem Kreis angestimmt, für die nächsten Strophen von einer zweiten Gruppe übernommen und von einer dritten weitergeführt, ehe die erste wieder übernahm. Um jeden Kreis von Sängern scharten sich noch einmal zwanzig oder dreißig Männer, die das begleitende Händeklatschen und den Hintergrundgesang übernahmen. Sie weinten beim Singen ungeniert und lachten auch viel zusammen. Und mit ihrer Musik halfen sie sich gegenseitig, in ihren von der Stadt verlassenen und vergessenen Herzen die Liebe am Leben zu erhalten.
Am Ende meiner zweiten Woche im Arthur-Road-Gefängnis traf ich mich mit zwei jungen Männern, die in weniger als einer Stunde entlassen werden sollten. Mahesh hatte mir versichert, dass sie eine Nachricht für mich überbringen würden. Die beiden waren einfache Jungs, die weder lesen noch schreiben konnten. Sie waren nur zu Besuch in Bombay gewesen und bei einem Zusammentrieb arbeitsloser Jugendlicher ins Gefängnis gesteckt worden. Nach drei Monaten, die sie ohne irgendeine formale Anklage im Arthur-Road-Gefängnis zugebracht hatten, wurden sie jetzt endlich freigelassen. Ich schrieb Abdel Khader Khans Namen und Adresse auf ein Stück Papier, mitsamt ein paar Zeilen, in denen ich ihm mitteilte, dass ich im Gefängnis saß. Den Zettel gab ich den beiden jungen Männern und versprach ihnen, sie nach meiner Freilassung zu belohnen. Sie legten zum Dank ihre Hände zusammen und zogen mit strahlendem, hoffnungsvollem Lächeln davon.
Später am selben Tag trieben uns die Aufseher noch brutaler als sonst im Schlafsaal zusammen und zwangen uns, in mehreren
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