Shantaram
Wie kann ich sie finden? Wo ist sie? Hasst sie mich jetzt? Glaubt sie womöglich, ich hätte sie sitzenlassen, nachdem wir uns geliebt haben? Könnte sie so was von mir denken? Ich muss in Bombay bleiben – sie kommt bestimmt wieder hierher. Ich muss hierbleiben und auf sie warten.
Ich verbrachte zwei Stunden in Vikrams Bad, dachte nach, schrubbte mich und verbiss mir die Schmerzen. Als ich mir schließlich ein Handtuch um die Hüften schlang und in Vikrams Schlafzimmer trat, waren alle meine Wunden aufgeplatzt.
»Oh Mann«, ächzte er, schüttelte den Kopf und krümmte sich vor Mitleid.
Ich betrachtete mich in dem mannshohen Spiegel an seinem Kleiderschrank. Im Bad hatte ich mich auf die Waage gestellt: Ich wog noch fünfundvierzig Kilo – genau die Hälfte der neunzig Kilo, mit denen ich vor vier Monaten ins Gefängnis gekommen war. Mein Körper war so ausgemergelt, dass er an die Überlebenden von Konzentrationslagern erinnerte. Jeder einzelne Knochen meines Skeletts war zu sehen, selbst meine Gesichtsknochen. Ich war von Kopf bis Fuß mit Wunden und Abszessen übersät, was auf dem tiefblauen Grund meiner Blutergüsse eine Art Schildpattmuster ergab.
»Khader hat von zwei Typen aus deinem Schlafsaal von dir erfahren, die freigelassen wurden – zwei Afghanen. Angeblich haben sie dich mal abends zusammen mit Khader bei irgendwelchen blinden Sängern gesehen und dich wiedererkannt.«
Ich versuchte mir die Männer vorzustellen, mich an sie zu erinnern, doch es gelang mir nicht. Afghanen, hatte Vikram gesagt. Offenbar waren sie sehr gut darin, Geheimnisse zu wahren, denn in all den Monaten hinter Schloss und Riegel hatten sie kein einziges Wort mit mir gewechselt. Wer immer die beiden auch gewesen sein mochten, ich stand tief in ihrer Schuld.
»Als sie rausgekommen sind, haben sie Khader von dir erzählt, und der hat dann nach mir geschickt.«
»Warum gerade nach dir?«
»Weil niemand erfahren sollte, dass er dich da rausholt. Der Preis war auch so schon gesalzen genug, yaar. Wenn die gewusst hätten, dass Khaderbhai das Bakschisch zahlt, wäre der Preis noch um einiges höher gewesen.«
»Woher kennst du ihn überhaupt?«, fragte ich, den Blick noch immer mit fasziniertem Entsetzen auf meinen gemarterten, abgezehrten Körper gerichtet.
»Wen?«
»Khaderbhai. Woher kennst du ihn?«
»Jeder in Colaba kennt ihn, Mann.«
»Klar, aber woher kennst du ihn?«
»Ich hab mal was für ihn erledigt.«
»Was denn?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Also, ich hab Zeit. Und du?«
Vikram lächelte und schüttelte den Kopf. Er stand auf, ging zu einem kleinen Tisch an der gegenüberliegenden Wand, der ihm als Bar diente, und schenkte uns Drinks ein.
»Einer von Khaderbhais Schlägern hat damals in einem Nachtclub einen reichen jungen Typen zusammengeschlagen«, begann er und gab mir mein Glas. »Er hat ihn ziemlich übel zugerichtet. Soviel ich weiß, hatte der Typ es allerdings verdient. Aber die Familie hat Anzeige erstattet. Khaderbhai kannte meinen Vater und erfuhr von ihm, dass ich den Jungen kannte – wir waren auf demselben College, yaar. Da hat Khaderbhai sich mit mir in Verbindung gesetzt und mich gebeten, herauszufinden, wie viel die haben wollten, damit sie die Anzeige zurückzogen. Es hat sich rausgestellt, dass sie einen ganzen Haufen wollten. Aber Khaderbhai hat trotzdem gezahlt, sogar noch mehr. Er hätte schwere Geschütze auffahren können und ihnen so richtig die Hölle heiß machen, weißt du. Verdammt, er hätte sie umbringen können, yaar. Die ganze verdammte Familie. Aber er hat es nicht getan. Sein Mann war im Unrecht gewesen, verstehst du? Deshalb wollte er das Richtige tun. Er hat bezahlt, und alle waren zufrieden. Er ist schon okay, dieser Khaderbhai. Einer, mit dem nicht zu spaßen ist, wenn ich mich mal so ausdrücken darf, aber echt okay. Mein Vater hat ziemlichen Respekt vor ihm, und das will was heißen, denn ich sag dir, mein Paps, der hat nicht grade Respekt vor vielen Leuten. Übrigens hat Khaderbhai mir gesagt, dass er möchte, dass du für ihn arbeitest.«
»Als was?«
»Frag mich nicht.« Er zuckte die Achseln. Dann begann er, saubere, gebügelte Kleidungsstücke aus seinem Schrank zu ziehen und aufs Bett zu werfen. Der Reihe nach nahm ich Shorts, Hose, Hemd und Sandalen entgegen und zog mich an. »Er hat mir bloß gesagt, dass ich dich zu ihm bringen soll, wenn du wieder fit genug bist. Ich würde mir das an deiner Stelle echt überlegen, Lin. Du brauchst wieder ein
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