Shantaram
von den Mahlzeiten. Die Aufseher saßen auf dem Steinboden um ein sauberes Laken herum, auf dem die vielen Gerichte bereitstanden: Reis, Dhal, Chutneys, frisches Roti, Fisch, Fleischeintopf, Huhn und süße Nachspeisen. Während sie geräuschvoll aßen, warfen sie ihren Lakaien, die in äffischer Unterwürfigkeit um sie herum hockten und mit vortretenden Augen und speichelnden Mündern warteten, Hühner-, Brot- oder Obststücke zu.
Der Duft dieses Essens war eine grausame Folter. Nie hatte Essen so gut gerochen, und während ich langsam verhungerte, wurde mir der Duft ihrer Mahlzeiten zum Sinnbild all dessen, was ich auf dieser Welt verloren hatte. Big Rahul bereitete es ein gnadenloses Vergnügen, mir bei jeder Mahlzeit etwas anzubieten. Er hielt einen Hühnerschlegel hoch, schwenkte ihn durch die Luft, gab vor, ihn mir zuzuwerfen und lockte mich mit Blicken und hochgezogenen Brauen, einer seiner Hunde zu werden. Gelegentlich warf er tatsächlich einen Hühnerschlegel oder süßen Kuchen in meine Richtung, ermahnte die wartenden Lakaien, die milde Gabe für mich, den Gora, liegen zu lassen, und drängte mich, hinzukriechen und zuzugreifen. Wenn ich nicht reagierte, wenn ich mich weigerte zu reagieren, gab er den Lakaien ein Zeichen und beobachtete dann mit diesem typischen süffisanten, boshaften Lächeln, wie die Männer sich auf den Essensrest stürzten und um ihn kämpften.
Ich konnte mich nicht überwinden, zu diesen Resten zu kriechen, sie anzunehmen, obwohl ich mit jedem Tag und jeder Stunde schwächer wurde. Meine Körpertemperatur schoss schließlich wieder in die Höhe, und meine Augen brannten Tag und Nacht vom Fieber. Anfangs ging ich noch zur Toilette, hinkend oder, wenn das Fieber mich lähmte, auf den Knien rutschend, doch ich tat es immer seltener. Mein Urin war dunkelorange. Die Unterernährung nahm mir jede Kraft, und selbst die einfachste Bewegung – mich von einer Seite auf die andere zu drehen oder mich aufzusetzen – erforderte so viel von dieser kostbaren, beschränkten Ressource, dass ich sie erst nach langem Überlegen und wenn es dringend nötig war ausführte. Den größten Teil der Tage und Nächte lag ich reglos da. Ich versuchte immer noch, mich von den Läusen zu befreien und mich zu waschen. Doch nach diesen einfachen Tätigkeiten war ich außer Atem und vollkommen kraftlos. Mein Herzschlag war unnatürlich schnell, selbst wenn ich einfach nur dalag, und mein Atem ging kurz und stoßweise. Oft stöhnte ich unbeabsichtigt dabei. Ich beobachtete mich selbst beim Verhungern und erfuhr am eigenen Leib, dass Hunger eine der grausamsten Tötungsarten ist. Ich wusste, dass Rahuls Essensreste mich retten würden, aber ich konnte nicht mehr durch den Raum zu diesem Festmahl kriechen. Wegsehen konnte ich aber ebenso wenig, und so verfolgten meine sterbenden Augen jede Mahlzeit, die er gierig in sich hineinstopfte.
Oft trugen mich meine Fiebervisionen zu meiner Familie und den Freunden in Australien, die ich für immer verloren hatte. Doch ich dachte auch an Khaderbhai, Abdullah, Qasim Ali, Johnny Cigar, Raju, Vikram, Lettie, Ulla, Kavita und Didier. Wenn ich an Prabaker dachte, wünschte ich mir, ich könnte ihm sagen, wie sehr ich seine aufrichtige, optimistische, tapfere und großzügige Wesensart schätzte. Und früher oder später landeten meine Gedanken immer bei Karla, jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde, die vor meinen brennenden Augen verstrich.
In meinen Träumen wurde ich von Karla gerettet. Ich dachte gerade an sie, als mich starke Arme hochhoben, die Ketten von meinen wunden Fußgelenken fielen und Wärter mich zum Büro eines der leitenden Gefängnisbeamten führten. Ich dachte an Karla.
Die Wärter klopften. Auf einen bestätigenden Ruf hin öffneten sie die Tür. Sie blieben draußen stehen, während ich den Raum betrat. In dem kleinen Büro sah ich drei Männer um einen Metallschreibtisch sitzen – den Gefängnisbeamten mit den kurzen grauen Haaren, einen Zivilpolizisten und Vikram Patel.
»Oh heilige Scheiße!«, rief Vikram. »Oh Mann, du siehst … du siehst scheißschrecklich aus! Oh Scheiße! Scheiße! Was habt ihr bloß mit diesem Mann gemacht?«
Der Beamte und der Zivilpolizist warfen sich einen ausdruckslosen Blick zu, antworteten jedoch nicht.
»Setzen Sie sich!«, befahl der Gefängnisbeamte. Ich blieb stehen, obwohl meine Beine fast nachgaben. »Bitte setzen Sie sich.«
Ich setzte mich und starrte Vikram fassungslos an. Der flache schwarze Hut, der ihm an
Weitere Kostenlose Bücher