Shantaram
unmittelbar nach seiner Freilassung aus Bombay geflohen. Ich tat das nicht. Ich konnte es nicht. Ich wollte wissen, wer mich ins Gefängnis gebracht hatte und warum. Ich wollte mich rächen. Der sicherste und schnellste Weg zur Vergeltung aber führte über die Arbeit für Khaderbhai und seinen Mafia-Klan.
Indem Khader mich in der Kunst des Gesetzebrechens unterweisen ließ – als Erstes schickte er mich zu Khaled Ansari, dem Palästinenser, der mich in den Schwarzhandel mit Devisen einführte –, gab er mir die Mittel an die Hand, das zu werden, was ich nie hatte werden wollen oder je versucht hatte zu sein: ein professioneller Krimineller. Es war ein gutes Gefühl. Es war ein ausgesprochen gutes Gefühl, sich im schützenden Kreis dieser Gemeinschaft von Brüdern zu bewegen. Wenn ich mit dem Zug zu Khaled fuhr, wenn ich mich mit anderen jungen Männern im trockenen, heißen Wind aus der Tür eines klappernden Waggons hängen ließ, schwoll mein Herz, berauscht von der wilden, tollkühnen Fahrt in der Freiheit.
Khaled, mein erster Lehrer, war einer jener Männer, deren Vergangenheit aus den Tempelfeuern ihrer Augen leuchtet. Und diese Tempelfeuer fachen die Glut mit Stücken ihres gebrochenen Herzens an. Ich bin Männern wie Khaled im Gefängnis, auf dem Schlachtfeld und in jenen Spelunken begegnet, wo sich Schmuggler, Söldner und andere Verbannte zusammenfinden. Sie haben alle etwas gemein: Sie sind zäh – denn gerade im schlimmsten Kummer liegt eine gehörige Portion Zähigkeit. Sie sind ehrlich, denn die Wahrheit hinter dem, was ihnen widerfahren ist, erlaubt es ihnen nicht zu lügen. Sie sind wütend, denn sie können die Vergangenheit weder vergessen noch vergeben. Und sie sind einsam. Die Meisten von uns versuchen sich mehr oder weniger erfolgreich vorzumachen, dass wir den Augenblick, in dem wir gerade leben, teilen können. Doch die Vergangenheit ist für uns alle eine einsame Insel, und wer dort vor Anker liegt, ist immer allein – so wie Khaled.
Khaderbhai hatte mir einen Teil von Khaleds Geschichte erzählt, als er mich auf meine ersten Unterrichtseinheiten vorbereitete. Ich hatte erfahren, dass Khaled mit seinen gerade einmal vierunddreißig Jahren vollkommen allein auf der Welt war. Seine Eltern, beide namhafte Gelehrte, waren wichtige Figuren im Kampf für einen unabhängigen palästinensischen Staat gewesen. Sein Vater war in einem israelischen Gefängnis gestorben. Seine Mutter, seine zwei Schwestern, seine Tanten und Onkel sowie seine Großeltern mütterlicherseits waren alle im Massaker von Shatila im Libanon ums Leben gekommen. Khaled, der in palästinensischen Ausbildungslagern in Tunesien, Libyen und Syrien von Guerillas geschult worden war und neun Jahre lang in unzähligen Einsätzen in nahezu allen Kriegesgebieten gekämpft hatte, brach nach dem blutigen Tod seiner Mutter und all der anderen im Flüchtlingslager zusammen. Sein Gruppenführer bei der Fatah, der sowohl die Zeichen eines solchen Zusammenbruchs kannte als auch die Risiken, die damit einhergingen, hatte ihn vom Dienst befreit.
Obwohl Khaled sich den Kampf um einen unabhängigen palästinensischen Staat nach wie vor auf seine Fahnen geschrieben hatte, kreiste all sein Denken und Fühlen nur um das Leid, das er hatte erdulden müssen, und sein Lebenszweck war das Leid geworden, das er anderen zuzufügen gedachte. Er war auf Empfehlung eines hochrangigen Guerillakämpfers, der Khaderbhai kannte, nach Bombay gekommen. Und der Mafia-Don nahm ihn unter seine Fittiche. Von Khaleds Bildung, seinen Sprachkenntnissen und seiner obsessiven Leidenschaftlichkeit beeindruckt, hatten die Mitglieder von Khaderbhais Klan den jungen Palästinenser mit einer Reihe von Beförderungen belohnt. Als ich ihn kennen lernte, drei Jahre nach Shatila, kontrollierte Khaled Ansari Khaderbhais sämtliche Schwarzmarktgeschäfte mit Devisen. Dieser Posten hatte ihm auch einen Platz im Rat verschafft. Als ich mich wieder kräftig genug fühlte, um einen ganzen Unterrichtstag durchzuhalten – nicht lange nach meiner Freilassung aus dem Arthur-Road-Gefängnis –, begann der verbitterte, einsame und vom Krieg gezeichnete Palästinenser, mich zu unterweisen.
»Es heißt immer, Geld sei die Wurzel allen Übels«, sagte Khaled, als wir uns in seiner Wohnung trafen. In seinem Englisch mischten sich Klänge seines New Yorker Akzents mit den Melodien von Arabisch und Hindi, das er recht gut beherrschte. »Aber das stimmt nicht. Es ist genau andersherum. Geld
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