Shantaram
der Antike geschrieben. Meine Mutter hatte damals, vor dem Sechstagekrieg, zu diesem Thema geforscht. Und mein Interesse für die Schwarzmärkte von Assyrien, Akkad und Sumer geweckt. Ich habe mich schon als Kind dafür interessiert, welche Rolle sie für die Handelsrouten, die Besteuerung und die Imperien hatten, die um sie herum errichtet wurden. Als ich selbst anfing, darüber zu schreiben, habe ich meiner Arbeit den Titel Black Babylon gegeben.«
»Spannender Titel.«
Er warf mir einen schnellen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich mich nicht über ihn lustig machte.
»Ich meine das ganz ernst«, versicherte ich ihm schnell, um ihn zu beruhigen, denn ich begann ihn zu mögen. »Ich finde, das ist ein interessantes Thema für eine Dissertation, und der Titel klingt wirklich spannend. Du solltest die Arbeit unbedingt fertig schreiben.«
Er lächelte erneut.
»Tja, Lin, das Leben ist voller Überraschungen, und für einen Malocher sind es meist keine schönen, wie mein Onkel in New York zu sagen pflegte. Jetzt arbeite ich selbst auf dem Schwarzmarkt, statt eine wissenschaftliche Arbeit darüber zu schreiben. Jetzt ist Black Bombay angesagt.«
Die Bitterkeit in seiner Stimme war verstörend. Grimmig, beinahe zornig starrte er auf seine gefalteten Hände, und ich versuchte, das Gespräch von der Vergangenheit wegzulenken.
»Ich habe Kontakte zu einem Schwarzmarktzweig, der dich interessieren könnte. Hast du schon mal vom Medikamentenmarkt der Leprakranken gehört?«
»Klar«, erwiderte er, und in seine dunkelbraunen Augen trat ein interessierter Ausdruck. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und durch seinen militärisch anmutenden Bürstenschnitt, der vorzeitig von grauen und weißen Strähnen durchzogen war. Nachdem er mit dieser Geste offenbar seine düsteren Erinnerungen losgeworden war, schenkte er mir seine volle Aufmerksamkeit. »Ich habe gehört, dass du Ranjit getroffen hast – er ist unglaublich, oder?«
Wir unterhielten uns über Ranjitbhai, den König der kleinen Gemeinschaft der Leprakranken, und über den Schwarzmarkt, den sie im ganzen Land organisiert hatten. Ihr geheimnisvoller Handel faszinierte uns beide gleichermaßen. Als Historiker – oder zumindest als jemand, der einmal davon geträumt hatte, einer zu werden, so wie seine gelehrte Mutter – war Khaled von dem langjährigen geheimen Aufbau dieses Handelsnetzes der Aussätzigen fasziniert. Mich als Schriftsteller wiederum reizte die Geschichte ihres Leidens und ihr eigenwilliger Umgang damit. Nach zwanzig Minuten angeregter Diskussion beschlossen wir, Ranjit einmal zusammen zu besuchen, um mehr über die Geschichte des Medikamentenschwarzmarkts zu erfahren.
Und mit diesem Versprechen zweier Exilierter, des Gelehrten und des Schriftstellers, begründeten Khaled und ich eine dauerhafte Freundschaft, die auf gegenseitigem intellektuellem Respekt gründete und uns so schnell und vorbehaltlos verband, wie es unter Kriminellen, Soldaten und anderen Überlebenden von Katastrophen üblich ist. Ich besuchte ihn jeden Tag in seiner spärlich möblierten, spartanischen Wohnung in der Nähe des Bahnhofs von Andheri. Unsere Sitzungen dauerten jeweils fünf oder sechs Stunden, und unsere Gespräche schweiften von der antiken Geschichte zur Zinspolitik der Zentralbanken, von der Anthropologie zu Währungen mit flexiblen oder festen Wechselkursen. In einem Monat lernte ich von Khaled Ansari mehr über diese weit verbreitete, aber komplexe Form der Kriminalität als die meisten D-Mark- und Dollar-Schieber in einem Jahr auf der Straße.
Als meine Unterweisung abgeschlossen war, begleitete ich Khaled morgens und abends zur Arbeit, sieben Tage die Woche. Die Bezahlung war gut. Mein Lohn war sogar so üppig, dass ich oft mit dicken Packen Rupien-Scheinen bezahlt wurde, die direkt von der Bank kamen und noch von Heftklammern zusammengehalten wurden. Im Vergleich zu den Slumbewohnern, die mir fast zwei Jahre lang Nachbarn, Freunde und Patienten gewesen waren, war ich schon ein reicher Mann.
Damit meine Wunden und Verletzungen aus dem Gefängnis so schnell wie möglich verheilten, hatte ich auf Khaderbhais Kosten ein Zimmer im India Guest House genommen. Die saubere, gekachelte Dusche und das weiche Bett beförderten meine Genesung zweifellos, aber bei der Entscheidung, ins India Guest House zu ziehen, ging es um mehr als nur meine körperliche Wiederherstellung.Tatsache war, dass die Monate im Gefängnis meiner Seele schlimmer zugesetzt
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