Shantaram

die nach Bombay kommen, auch. Na ja, egal – wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja, dieser Bulle hat also deine Akte und hält die Sache geheim. Aber bevor er irgendwas unternimmt, will er mehr über diesen verdammten Australier wissen, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist.«
    Vikram hielt inne und grinste mich an. Er trug eine schwarze Lederweste über seinem weißen Seidenhemd, obwohl es draußen fünfunddreißig Grad hatte. In seiner dicken schwarzen Jeans und den aufwändig dekorierten schwarzen Cowboystiefeln hätte ihm ziemlich heiß sein müssen, aber sein cooles Outfit schien kühlende Wirkung zu haben.
    »Das ist echt der Hammer, Mann!«, sagte er lachend. »Du bist aus einem Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen! Wie geil ist das denn? Das ist echt das Schärfste, was ich je gehört habe, Lin. Es ist zum Heulen, dass ich das niemandem erzählen darf.«
    »Erinnerst du dich daran, was Karla mal über Geheimnisse sagte, als wir hier saßen?«
    »Nee, Mann. Was denn?«
    »Wenn es nicht wehtut, dass man es für sich behalten muss, ist es kein Geheimnis.«
    »Ganz schön clever«, befand Vikram grinsend. »Also, wo war ich stehen geblieben? Ich bin heute echt nicht auf der Höhe, Mann. Das ist wegen dieser Geschichte mit Lettie. Das treibt mich echt noch in den Wahnsinn, Lin. Ach so, ja, der Bulle mit deiner Akte, der die Sache in die Hand genommen hat, will dich also ein bisschen unter die Lupe nehmen. Er schickt zwei von seinen Männern los, damit sie sich mal ganz unverbindlich über dich erkundigen. All die Jungs auf der Straße, mit denen du zusammengearbeitet hast, haben dir total Rückendeckung gegeben, Mann. Sie haben gesagt, dass du nie jemanden übers Ohr gehauen oder mies behandelt hast und dass du eine Menge Kohle bei den ganz Armen auf der Straße gelassen hast, wenn du welche hattest.«
    »Aber die Bullen haben niemandem erzählt, dass ich in der Arthur Road saß?«
    »Nee, Mann – die haben Nachforschungen über dich angestellt, um rauszufinden, ob sie dich über die Klinge springen lassen und zu ihren Kollegen nach Australien zurückschicken sollen oder nicht. Und es geht noch weiter. Da sagt doch einer von den Geldwechslern zu den Bullen: Hey, wenn ihr mehr über Lin wissen wollt, dann fragt doch mal im Zhopadpatti rum, da wohnt er nämlich. Jetzt werden die Bullen erst recht neugierig – ein Gora, der im Slum lebt! Also gehen sie direkt hin und schauen sich da mal ein bisschen um. Sie sagen niemandem im Slum, was mit dir ist, aber sie fragen ein bisschen herum, und die Leute sagen Sachen wie: Seht ihr die Praxis da drüben? Die hat Lin aufgebaut, er hat lange dort gearbeitet und den Leuten geholfen … Oder: Jeder hier ist irgendwann schon mal von Lin behandelt worden, und zwar kostenlos, und als die Cholera umgegangen ist, hat er tolle Arbeit geleistet … Und dann haben sie den Bullen von der kleinen Schule erzählt, die du gegründet hast. Seht ihr diese kleine Englischschule da drüben? Die hat Lin gegründet … Die Bullen kriegen also ordentlich was zu hören über diesen Lin, diesen Linbaba, diesen Ausländer, der lauter gute Taten tut, und dann gehen sie zu ihrem Chef zurück und erzählen ihm, was sie so alles aufgeschnappt haben.«
    »Komm schon, Vikram! Du glaubst doch selbst nicht, dass das irgendwas geändert hat. Es ging um Geld, um nichts anderes, und ich bin echt froh, dass du da warst und es bezahlen konntest.«
    Vikrams Augen weiteten sich vor Erstaunen und verengten sich in der nächsten Sekunde missbilligend. Er nahm sich den Hut vom Rücken und inspizierte ihn, drehte ihn in den Händen, schnippte ein paar Staubkörner von der Krempe.
    »Weißt du, Lin, du bist jetzt schon eine ganze Weile hier, du hast unsere Sprachen gelernt, du hast in einem Dorf und im Slum gelebt, du hast sogar im Knast gesessen, verdammt nochmal, aber irgendwie hast du’s immer noch nicht kapiert, wie?«
    »Mag sein«, räumte ich ein. »Schon möglich.«
    »Allerdings, Mann. Wir sind hier nicht in England oder Neuseeland oder Australien oder weiß der Himmel wo. Wir sind in Indien, Mann. In Indien. Hier regiert das Herz, Mann. Das verdammte Herz. Und deshalb bist du frei. Deshalb hat dir der Bulle deinen falschen Pass zurückgegeben. Deshalb kannst du hier draußen rumspazieren und wirst nicht wieder festgenommen, obwohl die wissen, wer du bist. Die hätten dich voll über die Klinge springen lassen können, Lin. Die hätten dein Geld nehmen können, Khaders Geld, dich laufen lassen und