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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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einem Menschen dieses Leben ohne einen guten Grund nimmt, ist das einfach nicht richtig.«
    »Ja«, erwiderte er geduldig, »aber warum ?«
    »Es ist einfach so.«
    »An diesen Punkt gelangen wir früher oder später alle«, erklärte Khader in ernsterem Ton. Er legte die Hand auf meinen Unterarm, der auf der Stuhllehne ruhte, und unterstrich seine Erläuterungen, indem er mir mit den Fingern aufs Handgelenk klopfte.
    »Wenn man Menschen fragt, warum es nicht richtig ist, zu töten oder irgendein anderes Verbrechen zu begehen, antworten sie: weil es gegen das Gesetz verstößt oder weil die Bibel, die Upanischaden, der Koran, der Achtfache Pfad des Buddha, die eigenen Eltern oder sonst irgendeine Autorität ihnen gesagt haben, dass es nicht richtig sei. Aber sie wissen nicht, warum. Vielleicht stimmt das, was sie sagen, aber sie wissen nicht, warum es stimmt.
    Um zu erkennen, ob eine Handlung, Absicht oder Auswirkung richtig oder falsch ist, müssen wir zwei Fragen stellen. Erstens: Was würde passieren, wenn jeder so handelte? Und zweitens: Würde es der Entwicklung hin zu größerer Komplexität nützen oder sie behindern?«
    Er hielt inne, weil Nasir und ein Diener eintraten. Der Diener brachte süßen schwarzen Suleimani-Chai in hohen Gläsern und eine Auswahl unwiderstehlicher Süßigkeiten auf einem silbernen Tablett. Nasir blickte Khaderbhai fragend an, und mir wurde wie immer ein Blick zuteil, in dem geballte Verachtung zum Ausdruck kam. Khader dankte ihm und dem Diener, und die beiden ließen uns wieder allein.
    »Im Falle des Tötens«, fuhr Khader fort, nachdem er den Chai durch einen Zuckerwürfel geschlürft hatte, »lautet die Frage also: Was würde passieren, wenn jeder Mensch andere Menschen töten würde? Wäre das hilfreich oder hinderlich? Sag es mir.«
    »Na ja, wenn jeder Mensch andere Menschen umbrächte, hätten wir die Menschheit ziemlich bald ausgerottet. Das wäre also … nicht gerade hilfreich.«
    »Genau. Wir Menschen sind das komplexeste Arrangement von Materie, das wir kennen, aber wir sind nicht die letzte Errungenschaft des Universums. Auch wir werden uns weiterentwickeln und verändern, zusammen mit dem restlichen Universum. Wenn wir allerdings wahllos töten, wird uns dieser Prozess nicht gelingen. Wir werden unsere Gattung ausrotten, und die ganze Entwicklung, die über Millionen von Jahren – Milliarden von Jahren – zu unserer Spezies geführt hat, wird vergeblich gewesen sein. Das Gleiche gilt für das Stehlen. Was würde passieren, wenn alle Menschen stehlen würden? Wäre das hilfreich oder hinderlich?«
    »Ja, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Wenn alle einander bestehlen würden, wären wir bald so paranoid und würden so viel Zeit und Geld verschwenden, dass es die Entwicklung verlangsamen würde und wir niemals …«
    »… die ultimative Komplexität erreichen würden«, führte er den Gedanken für mich zu Ende. »Aus diesem Grunde ist es nicht richtig, zu töten oder zu stehlen – nicht weil irgendein Buch oder ein Gesetz oder ein spiritueller Lehrer uns sagt, dass es falsch ist. Denn wenn jeder es täte, würden wir uns nicht mit dem Rest des Universums zu der ultimativen Komplexität hinentwickeln, die Gott ist. Und auch das Gegenteil stimmt – frage dich einmal, wozu die Liebe gut ist? Frage dich einmal, was passieren würde, wenn jeder jeden liebte? Würde uns das nützen oder uns behindern?«
    »Es würde uns nützen«, erwiderte ich lachend, und schon war ich in die Falle getappt, die er mir gestellt hatte.
    »Genau. Eine solche universelle Liebe würde die Entwicklung hin zu Gott sogar enorm beschleunigen. Liebe ist gut, Freundschaft ist gut. Treue ist gut. Freiheit ist gut. Ehrlichkeit ist gut. Wir haben schon vorher gewusst, dass all diese Dinge gut sind – mit dem Herzen haben wir es immer gewusst, und alle großen Lehrer haben es uns gesagt –, aber jetzt, mit dieser Definition von Gut und Böse, können wir erkennen, warum sie gut sind. Genauso wie wir erkennen können, warum es böse ist, zu töten und zu stehlen.«
    »Moment mal …«, widersprach ich, »und was ist mit Notwehr? Was ist, wenn man tötet, um sich zu verteidigen?«
    »Ja, das ist ein guter Einwand, Lin. Und deshalb möchte ich dich bitten, dir eine kleine Szene vorzustellen. Du stehst in einem Raum vor einem Schreibtisch. Am anderen Ende des Raums steht deine Mutter. Ein böser Mann hält ihr ein Messer an die Kehle. Er wird sie umbringen. Doch auf dem Schreibtisch vor dir befindet

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